Leib - Seele - Geist

 

 

Leib - Seele - Geist

 

Drei Worte bestimmen im Deutschen das Menschenbild der halbwegs Gebildeten wie keine anderen: Leib - Seele - Geist.

Diese Worte sind in unserer Lebenszeit so tief in unser aller Denken über die Natur des Menschen eingedrungen, dass sie dort kaum noch zu vergessen oder zu ersetzen sind. Gewiss sprechen wir heute im Alltag viel häufiger von unserem Körper als von unserem Leib, da das Wort "Leib" den meisten Leuten etwas zu altmodisch, gefühlig und poetisch klingt. Aber vielleicht wurde es gerade deswegen von bestimmten Therapeuten, Physiotherapeuten und körperzentrierten Psychotherapeuten wieder entdeckt und zumindest im Rahmen ihrer therapeutischen Arbeit wieder eingeführt.

 

Auch haben wir im Alltag das Wort "Seele", das den meisten Menschen heute etwas zu religiös und zu esoterisch klingt, längst durch das ursprünglich griechische Lehnwort "Psyche" ersetzt. Dazu haben in Europa vor allem die Psychoanalyse Sigmund Freuds und die Analytische Psychologie C. G, Jungs beigetragen. Wie die vermeintlichen Kenner und Fachleute, die Psychologen, Psychiater und Psychosomatiker, sprechen wir gewöhnlich von "psychischen Problemen", von unserer "Psyche" und vom "psychischen Befinden" im Unterschied zum körperlichen Befinden. 

 

Von den drei deutschen Worten "Leib - Seele - Geist", dürfte wohl das Wort "Geist" am wenigsten gebräuchlich sein, da es den meisten Leuten etwas zu abgehoben, ätherisch und vornehm klingt. Dennoch scheint zumindest das zugehörige Adjektiv "geistig" so unersetzbar zu sein, dass sogar ganz bodenständige Spitzensportler und ihre Coaches, Trainer und Sporttherapeuten es indirekt verwenden, genauer gesagt die aus dem Englischen importierten und eingedeutschten Wörter, "mental", "Mentalität" und "Mentaltrainer". 

 

Doch es soll hier nicht nur um Worte gehen, sondern um das, was wir mit ihnen bezeichnen und meinen. Das, was wir mit den Worten "Leib - Seele - Geist" meinen, sind jedoch keine drei genau abgrenzbaren und eigenständigen Dinge oder Substanzen, sondern nur etwas, das wir an oder bei Menschen unterscheiden können. Menschen scheinen uns irgendwie zusammengesetzte intelligente Lebewesen zu sein, die einen Leib, eine Seele und einen Geist haben, wobei Seele und Geist anscheinend nicht für sich bestehen können, sondern immer nur als Pänomene an oder bei leiblichen Menschen vorkommen, solange sie noch lebendig sind. 

 

Anfang und Ende des menschlichen Lebens 

 

Wenn ein Kind "auf die Welt kommt", wenn es gerade eben erst geboren wurde und zum Glück trotz einer schweren Geburt noch lebt und zu atmen angefangen hat, dann haben wir es schon mit einen lebendigen kleinen Menschen mit seinen leiblichen und seelischen Bedürfnissen, Erlebnissen und Fähigkeiten zu tun. Geistige Bedürfnisse, Erlebnisse und Fähigkeiten erwarten wir bei einem Neugeborenen hingegen noch nicht, da Kinder erst etwas älter werden und Kommunizieren und Sprechen lernen müssen, um geistige Bedürfnisse, Erlebnisse und Fähigkeiten zu entwickeln. 

 

Aufgrund dieser Sachverhalte dürfen wir festhalten, dass der menschliche Leib als der erlebte Körper und der lebendige Körper sowohl zeitlich und entwicklungsmäßig zuerst kommt. In der embryonalen Entwicklung des Fötus entstehen dann die ersten seelischen oder psychischen Bedürfnisse, Erlebnisse und Fähigkeiten der noch ungeborenen Föten und dann der geborenen Kleinkinder. Schon im Mutterleib beginnen kleine Föten irgendwann schon den Herzschlag der Mutter zu hören, ihre Stimme wahrzunehmen oder die Berührungen ihrer Hände auf dem Bauch zu spüren. 

 

Da sich am Anfang des Lebens und in den ersten Jahren der Kinder in einer jungen Familie fast alles um ihre leiblichen und seelischen Bedürfnisse, Erlebnisse und Fähigkeiten dreht, und um die geistigen Bedürfnisse, Erlebnisse und Fähig-keiten erst, wenn die Kinder ihre Eltern verstehen und selbst sprechen gelernt haben, wenn sie neugierig ihre schier endlosen Fragen stellen und eingeschult wurden, kommen die geistigen Bedürfnisse, Erlebnisse und Fähigkeiten in vielen Familien zu kurz. 

 

Aber auch schon Kinder interessiert, ob alle Menschen, z.B. wie ihre Großeltern, irgendwann sterben und wo sie sich dann befinden, wenn sie gestorben sind und bestattet wurden. In der Regel fragen sie dabei nicht nur nach ihrem Leichnam, der bereits bestattet wurde, sondern nach ihren Großeltern, wie sie sie gekannt haben. Je nach Religion, Konfession und Weltanschauung bekommen sie dann von ihren Eltern bestimmte Antworten. Selbst atheistische Eltern hüten sich gewöhnlich davor, ihren Kinder zu vermitteln, dass Oma und Opa nun einfach tot sind und in ihren Gräbern verwesen. Selbst wenn sie selbst davon überzeugt sind, haben sie das Gefühl, dass es grausam wäre, es ihren Kindern so hart und unverbrüchlich zu sagen. 

 

Was wir selbst glauben und unseren Kindern über das Sterben und den Tod erzählen, ist eine Sache. Wir wissen, dass es darüber in den verschiedenen Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen verschiedene Auffassungen und Lehren gibt und dass unsere Freunde und Verwandte sowie die Menschen in unserer eigenen Religion und Konfession verschiedener Auffassung sein können. Daher sind wir zumindest im weitgehend säkularisierten Europa vorsichtig und zögerlich geworden, zweifeln und glauben nicht mehr, dass irgendwer dazu endgültige Antworten hat. Wir neigen dazu, uns damit zufrieden zu geben, dass es auf diese letzten Fragen eben keine endgültigen Antworten gibt. Daher denken wir, dass eben die Einen dies und die Anderen jenes glauben und denken. 

 

Sobald jemand gestorben ist, scheint es dann auch nicht mehr passend zu sein, von seinem Leib zu sprechen. Denn der Leib ist der lebendige Körper eines Menschen, den jemand selbst bewegen kann. An zwei Arten von leiblichen Bewe-gungen oder Regungen erkennt man, ob jemand noch lebt oder schon gestorben ist. Die eine Art von Bewegung ist die Atmung, die die Atemluft bewegt. Wenn jemand nicht mehr atmet, ist das ein klares Zeichen dafür, dass er am Sterben ist oder schon gestorben ist. Die andere Art von Bewegung ist der Blutkreislauf, der das Blut durch die Aterien und Venen bewegt. Wenn jemand keinen Pulsschlag mehr hat, ist das ein weiteres klares Zeichen dafür, dass er am Sterben ist oder bereits gestorben ist.

 

Der tote Mensch hat dann nur noch einen Körper, indem sich nichts mehr bewegt, weder die Atmung noch der Puls. 

Wenn ein Mensch, der gestorben ist, keinerlei Regungen und Bewegungen mehr zeigt, dürfen wir annehmen, dass er auch keine leiblichen, seelischen und geistigen Bedürfnisse, Erlebnisse und Fähigkeiten mehr hat. Dabei setzen wir jedoch schon voraus, dass seine Seele und sein Geist ganz von seinem Leib abhängen und ohne ihn nicht weiter bestehen und vorkommen können. Dennoch umgibt einen Verstorbenen für die Angehörigen eine gewisse Aura der Scheu aufgrund des kaum verständlichen Unterschiedes zwischen demselben Menschen, so wie jemand ihn gekannt hatte, als er noch lebte, und dem jetzt so ganz anderen Menschen als einem Gestorbenen. 

 

Wissenschaftliche Erforschung der menschlichen Natur

 

Zeitgenössische Humanwissenschaftler wissen, dass Menschen eine bestimmte Natur haben, die sich in einigen Hinsichten von der Natur der Affen und anderer Tiere genotypisch und phänotypisch unterscheidet und die in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen erforscht wird. Den menschlichen Körper erforschen Anatomen und Physiologen. Es gibt Lehrbücher der Anatomie und Physiologie für Ärzte und Studierende der Humanmedizin. Diese enthalten viele Abbildungen mit Benennungen der dargestellten Teile, weil man die komplexen Zusammenhänge besser bildlich darstellen und memorieren kann als nur durch komplizierte Beschreibungen und Erklärungen in

Worten und Sätzen in linearen Texten. 

 

In der Anatomie und Physiologie lassen sich das Skelett bzw. der Knochenbau von den verschiedenen Systemen unterscheiden, wie dem System der Muskeln und Sehnen, der Gelenke und Faszien. Hinzu kommt das System der Lymphe und des Blutkreislaufes, der Atmung, der Verdauung und der Ausscheidung, der filigranen Nerven und der unsichtbaren Hormone. Molekularbiologen studieren dann den Aufbau und die Funktionsweisen auf einer für das bloße Auge unsichtbaren Ebene in mikroskopischen Bereichen. Alle diese Teilsysteme können zwar auch mehr oder weniger einzeln und getrennt erforscht und untersucht werden, sie wirken jedoch im lebendigen Organismus auf eine so komplizierte Art und Weise zusammen, das es unmöglich ist, ihr komplexes Zusammenspiel ganz und gar zu verstehen. 

 

Die verschiedenen Krankheitsbilder erforschen und systematisieren traditionell die Pathologen. Für die verschiedenen Erkrankungen des Gemütes, der Psyche und des Geistes sind dann die Psychopathologen zuständig, die in der Regel Neurologen und Psychiater zugleich sind, da das menschliche Gehirn durch das Nervensystem mit dem ganzen Körper verbunden ist. Es gibt jedoch neuerdings auch Ärzte, die sich gerade umgekehrt für die Bedingungen der Erhaltung und der Wiederherstellung der Gesundheit interessieren, der körperlichen, der seelischen und der geistigen Gesundheit.Zu ihnen gesellen sich nicht selten auch Psychologen und Psychiater. Im deutschsprachigen Raum kommen anders als etwa im angelsächsischen Raum noch die sog. Psychosomatiker hinzu, die sich insbesondere für das nur schwer erforschbare Wechselspiel einiger leiblicher und psychischer Beschwerden und Befunde interessieren. 

 

Es ist nicht ganz überraschend, dass sich auch viele Philosophen und Theologen über die Jahrhunderte hinweg für Themen und Probleme der seelischen und der geistigen Gesundheit interessierten. Denn schon in den Weisheitslehren der griechischen Philosophen hingen diese Anliegen zusammen und auch die Weisheitsbücher der Bibel enthielten schon einige Ratschläge und Lehren, die die seelische und geistige Gesundheit betreffen. 

 

Entmythologisierung der Natur in der Neuzeit und Moderne

 

Seit der Neuzeit wurden viele Vorstellungen über die irdische und kosmische Natur durch ein größeres Vertrauen in die menschliche Erfahrung und in die Erfindung und Anwendung von gezielten Experimenten in Frage gestellt und durch adäquatere Theorien ersetzt. Viele dieser Vorstellungen waren von mythischen Vorstellungen und idealisierenden Modellen abhängig, die sich aufgrund genauer Beobachtungen der Wirklichkeit als unhaltbar erwiesen hatten. Was mit der Erforschung der irdischen und kosmischen Natur erfolgreich begonnen hatte, machte dann auch vor der eigenen menschlichen Natur nicht halt.

 

Die Erforschung der menschlichen Natur hatte dann in 19. und 20. Jahrhundert jedoch noch viel stärkere Auswirkungen auf die Philosophie und Theologie als die naturwissenschaftlichen Forschungen der Frühen Neuzeit. Seit Descartes mit seinem methodischen Zweifel das wissenschaftliche Wissen seiner Zeit über Mensch und Natur auf einige wenige gewisse Prinzipien hin prüfte, folgten ihm eine ganze Reihe von Empiristen und Rationalisten, indem sie seine radikalen und provokanten Theorien und Modelle prüften und ausloteten, ob sie der sinnlichen Erfahrung und der rationalen Reflexion standhalten würden oder ob sie sich auf verschiedene Weise abgewandeln ließen.

 

Aufklärung und Romantik haben nicht nur die methodischen und theoretischen Grundlagen für die Humanmedizin der Moderne bereit gestellt, sondern auch für die moderne Psychologie, Psychopathologie und Psychiatrie. Dennoch wäre es ein modernistisches Selbstmissverständnis und ein szientistischer Irrtum, aus den großen und unzweifelhaften Erfolgen der Humanmedizin inklusive der Psychiatrie zu schließen, dass moderne Psychologen und Psychiater des 20. Jahrhunderts den Menschen und die menschliche Natur besser verstünden als einige der größten Dichter, Poeten und Literaten vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Wissenschaftlicher Fortschritt durch die Akkumulation empirischer Daten, durch experimentelle Forschungen und durch die Komprimierung wissenschaftlichen Wissen mag es zweifelsohne in der Geschichte der neuzeitlichen Naturwissenschaften gegeben haben, wo objektive Erkenntnisse möglich waren.. 

 

In den Humanwissenschaften ging es jedoch nicht nur um ein objektives Wissen wie in der Anatomie und Physiologie oder in der Pathologie. Psychologisches und psychopathologisches Verstehen und Erklären verlangt ein so hohes Maß an Selbsterkenntnis und Selbstverstehen, Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, dass sich die seelischen und die geistigen Erscheinungen von Menschen, seien es auch von Patienten und Klienten, kaum ohne Weiteres objektivieren lassen. Andere Menschen sind nun einmal keine bloßen Dinge oder anorganische Substanzen in der Welt, sondern intelligente Lebewesen mit psychischen und geistigen Dispositionen, subjektiven Phänomenen und psychischen Fähig-keiten, wie Motivationen, Kognitionen, Intuitionen und Reflexionen, Erinnerungen und Antizipationen, etc., die von Anderen nicht direkt wahrgenommen und objektiv beobachtet werden können, wie relativ konstante Gegenstände in der Lebenswelt. Sie können nur aufgrund ihres verbalen und nonverbalen Verhaltens erschlossden werden. Daher sind andere Menschen für einen selbst andere Subjekte, denen man nicht zwischenmenschlich begegnen kann, ohne in eine Beziehung einzutreten, die von Anfang an einen selbst und den Anderen verändert. 

 

Grenzen der Entmythologisierung der Seele und des Geistes

 

Die Entmythologisierung oder Entzauberung der irdischen und kosmischen Natur durch die neuzeitlichen Naturwissen-schaften war keine Schwächung des jüdischen und christlichen Glauben, wie zeitgenössische Atheisten und Agnostiker, Materialisten und Naturalisten allzu gerne meinen und immer wieder behaupten. Denn erstens waren die größten Naturforscher der Neuzeit wie Kopernikus, Galileo und Newton selbst gläubige Juden und Christen. Zweitens erforsch-ten sie die irdische und kosmische Natur gerade, um Gottes Schöpfung besser zu verstehen. Die Naturgesetze ver-standen sie dabei als diejenigen Gesetze, die Gott als Gesetzgeber seiner Schöpfung zugrunde gelegt hatte. Drittens hielten sie ihre Entdeckungen der Naturgesetze gerade für Gründe, die für einen intelligenten und transzendenten Schöpfergott sprachen. Viertens lässt sich die Entmythologisierung oder Entzauberung der irdischen und kosmischen Natur bis zu biblischen Zeiten zurückführen, als die Israeliten anders als die sie umgebenden Heiden die Sonne, den Mond und die Sterne nur für eine Art von natürlichen "Laternen" am Firmament hielten, aber gerade nicht für Götter. 

 

Eine entsprechende Entmythologisierung oder Entzauberung der menschlichen Natur mag zwar für den menschlichen Organismus mit seinen Organen, Bausteinen und Funktionsweisen möglich sein, da es dabei immer noch viel zu ent-decken, zu verstehen und zu erklären gibt, was Anatomen, Physiologen und Pathologen bisher noch unbekannt ist.

Aber Psyche und Geist als Inbegriffe der dynamischen Ursachen und Gründe der schier unerschöpflichen menschlichen Verhaltensweisen lassen keine derartigen Entdeckungen im Sinne einer Differenz zwischen Schein und Sein, Phänomen und Wirklichkeit zu. Hier handelt es sich um hoch komplexe Phänomene des persönlichen Innenlebens von Menschen, die sogar für sie selbst nur teilweise unmittelbar evident und subjektiv wahrnehmbar sind, da sie zum großen Teil noch nicht bewusst geworden sind oder gar nicht mehr bewusst werden können. Von außen können diese Phänomene

durch Andere bestenfalls mutmaßlich erschlossen werden, aber nicht zum Studienobjekt objektiver psychologischer Forschungen werden, ohne dass sie durch die experimentellen Versuchsanordnungen, durch die äußeren Umstände und durch die Interaktionen mit den Forschenden beeinflusst werden. 

 

Aufgrund dieser besonderen epistemologischen und ontologischen Verborgenheit des Seelischen und des Geistigen

ist nun einmal keine Entmythologisierung der menschlichen Seele und des menschlichen Geistes möglich, wie in den neuzeitlichen und modernen Naturwissenschaften. Daher scheitern alle objektivierenden, reduktionistischen und szientistischen Konzeptionen der menschlichen Natur und insbesondere der menschlichen Seele und des menschlichen Geistes, wie der empiristische Behaviorismus, der dogmatische Materialismus, der metaphysische Naturalismus und der neurowissenschaftliche Reduktionismus.

 

Während sich der menschliche Organismus objektiv und methodisch erforschen lässt, gilt das nicht für die seelischen und geistigen Phänomene und Fähigkeiten der Menschen. Selbst esoterische und mythische Vorstellungen, Ideen und Konzeptionen von der menschlichen Seele und vom menschlichen Geist liegen immer im Spektrum der möglichen

Ursachen und Gründe für die unerschöpfliche Fülle menschlicher Verhaltensweisen und können daher nicht einfach wissenschaftlich ignoriert oder gar dogmatisch ganz ausgeschlossen werden. Sie können in der seelischen und geis-tigen Dynamik der Menschen eine unverhoffte Rolle spielen.

 

Bei dieser Dynamik der Vorstellungen, Ideen und Konzeptionen von der menschlichen Seele und vom menschlichen Geist handelt es sich um etwas Wirkliches, da es sich in der menschlichen Psyche auswirkt. Das gilt nicht nur für die Psyche einzelner Menschen, sondern auch und erst recht für ganze Gesellschaften und Kulturen, Völker und Nationen, die seit einigen Jahrhunderten durch die Vorstellungen, Ideen und Konzeptionen von der menschlichen Seele und vom menschlichen Geist ihrer jeweiligen Religion und Weltanschauung geprägt wurden. Man muss z.B. nur China, Indien und Japan mit Europa und Russland vergleichen, um festzustellen, dass es auch charakteristische Mentalitäten dieser verschiedenen Kulturen gab, die sich allerdings seit der Moderne aufgrund der zunehmend materialistischen und merkantilistischen Tendenzen der Globalisierung einander angleichen. 

 

Vielfalt der Glaubensweisen und Einheit der Wahrheit

 

Immanuel Kant konnte in seiner kritischen Philosophie zeigen, dass rationale Argumente nicht genügen, um über die erfahrbare Lebenswelt und das beobachtbare raumzeitliche Universum hinaus das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Realität des freien menschlichen Willens strikt zu beweisen. Hegel hat dieses Resultat zwar einerseits akzeptiert, hielt Kants Philosophie in "Glauben und Wissen" jedoch nur für eine bloße "Verstandesphilosophie", die nicht über die Grenzen der menschlichen Erfahrung hinausgehen kann. Daher  wollte er mit seinem spekulativen Denken über seine "Phänomenologie des Geistes" hinaus eine spekulative Logik des Einen, Ganzen und Wahren begründen, die im Anschluss an Spinozas Pantheismus der "Allnatur" das Ganze als das Wahre zu verstehen versucht.

 

Im Unterschied zu Kant und Hegel war Franz Brentano von der menschlichen Selbsterfahrung und der menschlichen Erfahrung der irdischen Lebenswelt und des beobachtbaren Universums ausgegangen. Seine "induktive Metaphysik" knüpfte an Aristoteles und Descartes, Leibniz und Locke an und folgte der "Methode der Naturwissenschaften", an den Grenzen des unmittelbar und mittelbar Erfahrbaren hypothetische Vermutungen über die realen Bedingungen dessen anzustellen, die die erfahrbaren Realitäten ermöglicht haben. Auf diese Weise lässt sich ganz rational vermuten, dass

am Anfang des raumzeitlichen Universums, am Anfang des organischen Lebens und am Anfang der logischen und sprachlichen Intelligenz des Menschen jeweils eine schöpferische Intelligenz gestanden haben muss, die diese sonst unerklärlichen qualitativen Sprünge ermöglicht hat. 

 

An den Grenzen der menschlichen Selbsterfahrung sprechen Außerkörpererfahrungen und Nahtoderfahrungen, dass das menschliche Bewusstsein bzw. die menschliche Geistseeele auch ohne die vitalen Ermöglichungsbedingungen des menschlichen Gehirns und Nervensystem existieren kann. Kant hat nur zeigen können, dass sich die Unsterblichkeit der Seele nicht rein rational beweisen lässt. Er konnte weder zeigen, dass sie a priori unmöglich ist, noch konnte er a priori ausschließen, dass es an den Grenzen der Selbsterfahrung gewisse empirische Indizien für ihre Möglichkeit und für ihre Wirklichkeit gibt. Beweise durch Indizien sind freilich keine apriorischen, formalen und zwingenden Beweise, wie es sie praktisch nur in der formalen Logik und Mathematik gibt. Beweise durch Indizien sind nur empirische und informelle Beweise, die nur die Wahrscheinlichkeit gewisser Vermutungen erhöhen, wie z.B. bei Indizienprozessen vor Gericht oder wie bei der Diskussion gewisser Evidenzen für Hypothesen in den Wissenschaften. 

 

An den Grenzen der menschlichen Beobachtung der irdischen Lebenswelt und des kosmischen Universums sprechen die wissenschaftlichen und metaphysischen Prinzipien des zureichenden Grundes und des "ex nihilo nihil fit" dafür, dass das raumzeitliche Universum nicht ohne einen ersten Impuls aus einem kosmischen Nichts heraus entstanden sein kann. Ähnlich konnte bisher noch nicht gezeigt werdem, wie aus anorganischer Materie und Energie die ersten Formen organischen Lebens entstanden sind, ohne dass eine kosmische Intelligenz zur Entstehung des komplizierten Bauplans in den Informationen der DNA beigetragen hat. Schließlich ist es kaum möglich, die logischen und mathematischen, rationalen und kognitiven Grundstrukturen des menschlichen Denkens, Schließens und Urteilens alleine aus evolutio-nären Anpassungen und Überlebensvorteilen von Hominiden an die Umwelt zu erklären. 

 

Obwohl es viele verschiedene Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen gibt, die verschiedene Vorstellungen, Ideen und Konzeptionen von Gott und von der menschlichen Seele und vom menschlichen Geist enthalten, lässt sich aufgrund der naturgesetzlichen Einheit der irdischen und kosmischen Natur schließen, dass auch die menschliche Natur, die in der irdischen Natur evolutionär entstanden ist und die mehr oder weniger gut in die irdische Natur einge-bettet ist, selbst eine einheitliche Wirklichkeit sein muss. Daraus folgt, dass nicht alle Vorstellungen, Ideen und Konzep-tionen von Gott und von der menschlichen Seele und vom menschlichen Geist in gleicher Weise wahr sein und zutreffen können, zumal sie sich in einigen Hinsichten widersprechen. Daher ist die philosophische Frage danach, welche Vor-stellungen, Ideen und Konzeptionen von Gott, von der menschlichen Seele und vom menschlichen Geist wahr sind und welche nicht völlig berechtigt.

 

Wenn Franz Brentano und andere moderne Metaphysiker von Gott als einer höheren, kosmischen, schöpferischen Intelligenz sprechen, die wir freilich weder wahrnehmen noch beobachten, sondern nur erschließen und vermuten können, dann denken sie sich dieses transzendente Wesen nicht mehr mythologisch und anthropomorph als einen alten Mann mit Bart im Himmel über den Wolken, der ab und zu sozusagen "von außen" in die Welt eingreift, etwa um ein Wunder zu bewirken oder um einen Engel als Boten zu schicken, wie sich das frühere Generationen von Juden und Christen bildlich und poetisch vorgestellt haben. Obwohl uns Menschen oft die angemessenen Vorstellungen und passenden Begriffe fehlen, um dieses schier unbegreifliche und unermeßliche intelligente und schöpferische Wesen zu verstehen, müssen wir nicht resignieren. Denn auch das Erstaunliche und nicht vollständig Begreifbare ist ganz real,

wie ein Blick in den Abendhimmel zeigt, sobald sich uns die schier unendliche Weite des Universums mit ihren unzähli-gen Lichtern zeigt, von denen wir heute wissen, dass es sich um Milliarden von Sonnensystemen und Galaxien handelt.

 

Teleologische Strukturen und Verhaltensmuster 

 

Franz Brentano hat gegen Immanuel Kant jedoch auch die teleologischen Funktionen im System der Organe lebendiger Organismen und teleologische Verhaltensmuster der ganzen organischen Lebewesen rehabilitiert. D.h. natürliche Ziele und zielgerichtetes Verhalten sind ganz real und keine bloß subjektiven Projektionen des Menschen. Ihre Organe haben vital notwendige zielgerichtete Funktionen. So dient z.B. ihr Blutkreislauf dazu, ihren ganzen Organismus und alle seine Organe mit frischen, durch Sauerstoff angereichertes Blut, zu versorgen. So dient das hoch komplexe Nervensystem dem menschlichen Gehirn dazu mit den Organen und Gliedern des ganzen Organismus verbunden zu sein, um von dort Reize zu empfangen und um dorthin Impulse auszusenden.

 

Tiere verfolgen immer schon instinktiv bestimmte vital notwendige Ziele, wie z.B. die Suche nach Wasser, um den Durst zu stillen oder die Jagd nach Nahrung, um den Hunger zu beseitigen. Diese vital notwendigen Ziele dienen den von Natur aus übergeordneten Zielen der vitalen Selbsterhaltung und der generativen Reproduktion. Beim Menschen (homo sapiens) bilden sich die bei Neugeborenen noch wirksamen natürlichen Instinkte, wie der Greif- und Saugreflex, noch im Kindesalter zurück, sodass sie zunehmend durch gewohnheitliche und erlernte Verhaltensziele und schließlich nach und nach durch selbstgesetzte Ziele ersetzt werden. 

 

So dienen auch die Impulse des Nervensystems dem Gehirn dazu, die spontane Willensentscheidungen, etwa seine rechte Hand zu heben, von einem Stuhl aufzustehen oder sich wieder hinzusetzen, irgendwann loszulaufen oder irgendwo anzuhalten, dem Körper und seinen Gliedern zu vermitteln, was jeweils willentlich getan werden soll. Aber auch, wenn es ohne ein gesundes Gehirn und ohne ein gesundes Nervensystem nicht geht, wie wir z.B. von Menschen mit Parkinson oder einer ähnlichen Erkrankung  wissen, wäre es irreführend, jemandes Willensentscheidung nur als einen Gehirnvorgang erklären und verstehen zu wollen oder als neurologischen Prozess im Gehirn zu lokalisieren.

Denn was auch immer im Gehirn und Nervensystem geschehen mag, wenn sich jemand dazu entscheidet, seine rechte Hand zu heben, hat sich dieser Mensch selbst dazu entschieden und es absichtlich getan. Er hat sich etwas Bestimmtes vorgenommen; er hat sich selbst ein Ziel gesetzt und es dann in die Tat umgesetzt. 

 

Intentionale Inhalte der seelischen und geistigen Phänomene und Fähigkeiten

 

Franz Brentano hat anders als David Hume und Immanuel Kant jedoch auch auf die Intentionalität der seelischen und geistigen Phänomene und Fähigkeiten hingewiesen. Intuitionen, Emotionen und Motivationen, Kognitionen und Reflexionen haben immer einen bestimmten Inhalt, auf den sie bezogen sind. So sind z.B. Vorstellungen sind immer Vorstellungen von etwas, Gefühle beziehen sich auf etwas oder jemand, Absichten haben etwas, das beabsichtigt wird, Willensentscheidungen beziehen sich auf etwas, das zu realisieren ist, Gedanken beziehen sich auf etwas Gedachtes, Reflexionen beziehen sich auf ein Thema, etc. 

 

Diese intentionalen Inhalte können in der eigenen Psyche selbst liegen, wie wenn jemand auf seine eigenen Emotionen, Motivationen und Kognitionen achtet oder sie können außerhalb der eigenen Psyche liegen, wie wenn jemand gerade das aktuelle Geschehen in seiner natürlichen oder kulturellen Lebenswelt wahrnimmt. Intentional sind jedoch nicht erst die psychischen Phänomene und Fähigkeiten von Menschen, sondern auch schon die psychischen Phänomene und Fähigkeiten von empfindungsfähigen und bewussten Säugetieren und Vögeln. In dieser Hinsicht irrte sich Descartes, der alle Tiere für empfindungslose "Automaten" ohne Bewusstsein hielt, wodurch auch noch Kant beeinflusst wurde, da er sich nur für das höhere menschliche Selbstbewusstsein des propositionalen Gedankens "Ich-denke dass p" interes-sierte, aber kaum für das basalere und propriorezeptive leibliche Selbstbewusstsein lebendiger Organismen, das auch schon bei gesunden Kleinkindern vor dem Spracherwerb vorhanden ist. 

 

Die Intentionalität der psychischen und geistigen Phänomene und Fähigkeiten ist die Eigenschaft der Vorstellungen

und Intuitionen, der Emotionen und Motivationen, der Kognitionen und Reflexionen auf bestimmten Inhalte bezogen

zu sein, wobei sich diese Inhalte entweder in der Psyche und im Leib eines intelligenten Lebewesens selbst oder aber außerhalb seiner Psyche und seines in seiner Lebenswelt befinden können. Ich kann sowohl etwas wie einen physischen oder seelischen Schmerz in mir selbst empfinden oder aber etwas außerhalb von mir wahrnehmen, wie z.B. einen Vogel,

der dort draußen auf einem Ast des Baumes in meinem Garten sitzt und vor sich hin zwitschert.

 

Diese Eigenschaft der psychischen Empfindungen und Wahrnehmungen, Gedanken und Urteile, Absichten und Ent-scheidungen auf etwas bezogen zu sein, nennt man die Intentionalität. Kein materielles Ding wie ein Kieselstein, kein physischer Körper wie ein Baumstamm, keine anorganischen Substanzen wie Kohlendioxid oder Schwefel und keine organischen Substanzen wie Biomasse oder Humus haben diese Eigenschaft. Selbst Einzeller, Pilze und Pflanzen haben noch keine psychischen Fähigkeiten und Phänomene, denn sie kommen erst bei Tieren mit Wahrnehmungorganen und Reizleitern vor. Intentionalität ist daher ein wesentliches Merkmal des Psychischen im Unterschied zum Physischen.

 

Sprachliche Intentionalität

 

Menschen sind dann im Unterschied zu allen Arten von Tieren aufgrund ihrer Sprach- und Vernunftbegabung auch

noch zu einer geistigen Intentionalität fähig, da sich ihre sprachlichen Gedanken und Urteile sowie die darin gebrauch-ten Wörter und Sätze sich auf interne und externe Gegenstände und ihre Eigenschaften, auf Ereignisse und Prozesse, auf Situationen und Relationen, etc, beziehen können. Ihre sprachlichen Gedanken und Urteile können von etwas handeln (to be about something), da sie psychische bzw. geistige Akte sind, die sich intentional auf bestimmte Inhalte oder Objekte beziehen und nicht nur physische Vorgänge in ihrem Gehirn und Nervensystem oder anderen Organen ihres physischen Körpers, die keine intentionalen Inhalte oder Objekte haben.

 

Aufgrund ihrer sprachlichen Intentionalität leben Menschen in einer komplexen sprachlich erschließbaren Welt der differenzierbaren Einzeldinge und Arten von Einzeldingen, der Substanzen und ihrer Eigenschaften, der Ereignisse und Prozesse, der Situationen und Relationen, etc. und nicht nur in einer nur wahrnehmbaren, aber nicht sprachlich und gedanklich differenzierbaren Umwelt wie die stummen sprachlosen Tiere. Menschen befinden sich nicht nur instinktiv

in einer bloß vorhandenen Umwelt wie die Tiere, sondern sie haben eine ganze, reichhaltig und vielfältig strukturierbare Welt, die sie erforschen, verstehen und erklären können. 

 

Die Anhänger einer naturalistischen Weltanschauung verkennen, dass die Sprache und das sprachliche Denken den Menschen zu einem ganz anderen Wesen macht, das sich aufgrund der konventionellen Sprache und des sprachlichen Geistes einer bestimmten Kultur auf eine vielfältige Art und Weise zu sich selbst und zur Welt verhalten kann und sich nicht nur einfach in einer natürlichen Umwelt befindet wie die stummen und nicht sprachfähigen Tiere. Naturalisten versuchen den Menschen wie einen Affen zu behandeln, der zufällig auch noch reden kann. Daher versuchen sie den Menschen ohne eine phänomenologisch angemessene Rücksichtnahme auf seine eigenständige Art und auf sein anderes Wesen "wieder zu veraffen" (reaping mankind), wie das der Neurowissenschaftler und Philosoph Raymond

Tallis einmal so treffend genannt hat.  

 

Subjektive Evidenz der Willensfreiheit?

 

Was Philosophen über die Möglichkeit und Wirklichkeit eines freien menschlichen Willens denken, hängt wesentlich davon ab, wie sie den Menschen verstehen und für wen sie sich selbst halten. Idealisten wie Johann Gottlieb Fichte dachten, dass es ein geistiges "Ich" gibt, das die unsichtbaren Gedanken, die bewussten Absichten des Willens und die äußerlich sichtbaren Handlungen steuern kann. Menschen wären demzufolge wesentlich "geistige Wesen", die auch einen Körper und eine Seele haben. Auch Platon und Pythagoras dachten, dass es eine Geistseele gibt, die sogar schon vor der Geburt existierte, die dann in den physischen Leib eines lebendigen Menschen inkarniert wird und die dort während seines ganzen Lebens in ihm lebt und wirkt, bis sie ihn beim Tod des physischen Leibes wieder verlässt. 

 

Materialisten hingegen glauben gerade umgekehrt, dass Menschen wesentlich körperliche Wesen sind. Ihr mensch-liches Bewußtsein ist nur eine komplizierte Funktionsweise ihres Organismus. Ihre psychischen Eigenarten sind ein weitgehend genetisch determiniertes Aggregat aus angeborenem Temperament und erworbenem Charakter. Ihre basalen kognitiven Fähigkeiten erwerben sie angeblich erst mit ihrer ersten Sprache in der Kindheit und Jugend.

Ihre schulische Ausbildung und ihre weitere Bildung bestimmen dann, wie sich je nach ihren angeborenen Begabungen, ihre persönlichen Interessen und geistigen Fähigkeiten weiter entwickeln können. Aber so wie Kinder als nackte körperliche Wesen mit erwachenden vitalen Grundbedürfnissen geboren werden, so sterben sie auch früher oder später als nackte körperliche Wesen, sodass ihre vitalen Grundbedürfnisse erlöschen. 

 

Vergleicht man die Grundzüge der beiden Menschenbilder der Idealisten und Materialisten, wird schnell klar, dass nur Idealisten glauben können, dass Menschen einen freien Willen haben, Materialisten hingegen nicht. Denn für Materia-listen ist auch der menschliche Wille einzelner Individuen vollständig durch vorgeburtliche Erfahrungen im Mutterleib, durch die genetische Mitgift, durch die frühkindliche Erziehung, durch prägende Lebenserfahrungen und durch sozio-kulturelle Faktoren determiniert. 

 

Die subjektive Evidenz der Willensfreiheit, die aus der aktuellen Selbsterfahrung stammt, dass ich hier und jetzt meine rechte oder linke Hand willentlich hocheben kann oder nicht, interpretiert der Idealist als Bestätigung seiner Auffassung von der willentlichen Steuerung seiner Entscheidungen als mentale Verursachung durch die Gedanken seines geistigen "Ichs" bzw. seiner Geistseele. Der Materialist hingegen interpretiert die subjektive Evidenz der Willensfreiheit, die aus

der aktuellen Selbsterfahrung stammt, unter der Voraussetzung seiner Auffassung von der Verursachung durch unbe-wusste Motive im Gehirn und Nervensystem, die seiner bewussten willentlichen Entscheidung unbemerkt ganz kurz vorausgehen. Anders als der Idealist muss der Materialist dazu jedoch unterstellen, dass die subjektive Evidenz nur eine Illusion ist und dass hinter ihr unbewusste Kausalitäten oder neuronale Mechanismen am Werk sind. 

 

Beide Menschenbilder sind jedoch recht dogmatisch und viel zu einfach, denn sie verkennen die interne Komplexität und Prozessualität der menschlichen Willensbildung und Willensentscheidung jeder individuellen Persönlichkeit. Außerdem klammern sie aus, dass jede willentliche Entscheidung unter sich wandelnden psychischen Dynamiken stattfindet. Diese sich stets wandelnden Dynamiken in der menschlichen Psyche umfassen ein hoch komplexes Zusammenspiel von Intuitionen und Emotionen, Kognitionen und Reflexionen, Erinnerungen und Antizipationen, etc., das weder jemand selbst noch zeitgenössische Psychologen oder Neurowissenschaftler von außen beobachten, ganz erklären und verstehen können. Schließlich finden alle willentlichen Entscheidungen unter den konkreten, externen Umständen statt, in denen sich jemand gerade befindet und seine Entscheidung zuerst zu treffen und dann zu ver-antworten hat.  

 

Mit dem Aspekt der Verantwortung kommen zu den faktischen psychischen Dynamiken in der menschlichen Psyche praktische Ideale, Normen und Werte hinzu, die in der menschlichen Willensbildung und Willensentscheidung auch noch eine wesentliche Rolle spielen können. Während der Idealist sie als Bestandteil der mentalen Verursachung des Willens durch den Geist verstehen kann, muss sie der Materialist als ein Epiphänomen des menschlichen Bewusstseins auffassen. Marx hielt sie nur für internalisierte Auswirkungen der kollektiven bürgerlichen Ideologie auf die einzelnen Menschen. Freud hielt sie bloß für erworbene Zwänge des aufgezwungenen Über-Ich, die der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung eines gesunden Ich ebenso im Wege stehen können wie die emotionalen Überflutungen durch unbewusste Triebkräfte des unbewussten Es..  

 

Zwischen der idealistischen Überhöhung des Menschen als einem kaum fassbaren geistigen Wesen und der materia-listischen Verdinglichung des Menschen als einem objektiv erforschbaren körperlichen Wesen gibt es jedoch ein drittes Menschenbild, das den variierenden Phänomenen des Menschseins deutlicher gerecht wird. Menschen sind danach wesentlich intelligente leibliche Lebewesen, die sich aufgrund ihres unmittelbaren Selbstbewusstseins innerlich und subjektiv als solche erleben können. Objektiv erforschbar sind nur die biologischen Zusammenhänge ihres Körpers

oder menschlichen Organismus inklusive der Vorgänge und Zustände in ihrem Gehirn und Nervensystem, das jedoch immer in den Organismus eingebettet ist und das nur als eigebettetes Zentralorgan verstanden und erklärt werden kann, aber nicht ihr subjektives Befinden davon, wie es ist, sie selbst zu sein. 

 

Das leibliche Selbsterleben und die psychische Selbsterfahrung hängen zwar von Geburt an untrennbar zusammen.

Kleinkinder spüren Hunger oder Durst, leibliches Unwohlsein oder gar Schmerzen und reagieren unmittelbar auf ihre Mißempfindungen, obwohl sie sie anfangs noch gar nicht adäquat benennen und sprachlich ausdrücken können. Mit ihrer zunehmenden Fähigkeit, Empfindungen und Gefühle, Motive und Gedanken zu unterscheiden, zu benennen und auszudrücken, was sie sich wünschen und was sie wollen, wächst auch ihr Selbstverständnis und ihre Fähigkeit mit den Menschen in ihrer Umgebung zu kommunizieren. Dadurch wird aus dem spontanen Reiz-Reaktions-Zusammenhang der Kleinkinder allmählich ein kommunikatives Fragen und Antworten und eine Interaktion mit der Fähigkeit, die un-mittelbare Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Wünsche aufzuschieben, um auf günstige Momente für eine Gratifikation und Satisfaktion zu warten. 

 

Gleichzeitig mit dieser Entwicklung entsteht die individuelle Willensbildung eines Menschen, in der sich das individuelle Selbst zwischen den leiblichen und seelischen Regungen sowie zwischen den Emotionen und Motivationen einerseits und den kognitiven und reflexiven Fähigkeiten entstehen und entwickeln kann. Die subjektive Evidenz der Willensfreiheit kann von Menschen mit diesem dritten Menschen- und Selbstbild der Person als einem sozialisierten intelligenten Lebewesen akzeptiert werden, ohne sie wie die Idealisten nur durch eine mentale Verursachung durch den Geist zu erklären und ohne sie wie die Materialisten auf unbewusste Motive oder verborgene Mechanismen des Körpers oder des Gehirns und des Nervensystems zurückzuführen. Zum diesem Verständnis der Willensbildung gehört die Erfahrung einer Willensschwäche, die zumindest in der Kindheit und Jugend, manchmal jedoch auch noch im Erwachsenenalter auftritt. Bei der Willensschwäche handelt es sich um eine erfahrbare Differenz zwischen dem Wollen und dem Können. Jemand will zwar das Bessere und das als richtig Erkannte tun, tut dann jedoch das Schlechtere, das er oder sie eigent-lich nicht tun wollte. 

 

Gibt es auch eine falsche Evidenzgefühle?

 

Bei manchen subjektiven Evidenzen ist es praktisch unmöglich, dass sich jemand irrt und selbst täuscht. Wenn jemand z.B. Zahnschmerzen hat, kann es durchaus sein, dass ein Zahnarzt auf Anhieb keine äußeren objektiven Ursachen für seine subjektiv empfundenen Zahnschmerzen findet. Dennoch muss er seiner Patientin glauben, dass sie Zahn-schmerzen hat, weil es nicht bekannt und kaum möglich ist, dass sich Patienten ihre Zahnschmerzen nur einbilden.

 

Etwas anders verhält es sich jedoch mit einer ganzen Reihe von sog. psychosomatischen Beschwerden, die jemand sich bis zu einem bestimmten Grad auch einbilden kann. Die subjektive Evidenz von leiblichen Empfindungen wie Zahn-schmerzen ist zwar in der Regel epistemisch unkorrigierbar, aber im Bereich der menschlichen Emotionen (Affekte, Gefühle, Leidenschaften und Stimmungen) ist es durchaus möglich, dass sich manche Menschen zumindest manch-

mal, wenn auch nicht immer, über die Eigenart ihrer Emotionen und Evidenzgefühle selbst täuschen. 

 

Wenn es derartige Selbsttäuschungen über die eigenen Emotionen gibt, dann kann kaum ausgeschlossen werden,

dass sich Menschen auch über ihre Motive und Motivationen täuschen können, die ihren bewussten Absichten und Entscheidungen, Handlungen und Verhaltensweise zugrundelagen. So kann hinter einem fürsorglichen Verhalten ein nicht eingestandener Wille zur Macht stecken. So können sich hinter guten Absichten fragwürdige Motive verstecken.

So kann eine angebliche Gewissensentscheidung aus Angst oder Furcht vor den wahrscheinlichen Konsequenzen erfolgen.

 

Auch über den Zustand des eigenen Körpers und das Wohlbefinden des eigenen Leibes kann sich jemand täuschen. Mädchen und junge Frauen z.B., die dem fragwürdigen Ideal einer extremen Schlankheit nacheifern und sich dazu durch extreme Diäten oder gar aufgrund einer Bulämie (Ess- und Brechzwang) auf ein geringes Gewicht unter ihren Normalgewicht herab hungern, können sich aufgrund ihres normativen Selbstbildes und unrealistischen Körper-schemas völlig falsch selbst einschätzen und daher falsche subjektive Evidenzgefühle haben. 

 

Auch bei der platonisierenden Vorstellung und irritierenden Selbstbeschreibung von jemand, der von sich irgendwann meint, sozusagen "im falschen Körper geboren" zu sein und "eigentlich" ein anderes Geschlecht zu haben, als die äußere Wahrnehmung seiner sexuellen Merkmale und physischen Organe seines Organismus nahe legt, und sich dazu auf seine Gefühle beruft, handelt es sich um jemand, der anscheinend von seiner ursprünglichen leiblichen Selbsterfahrung entfremdet ist. Es handelt sich um eine emotionale und kognitive Persönlichkeitsstörung, die zeitgenössische Psychiater "Genderdysphorie" nennen.

 

Was jemand den "falschen Körper" nennt, in den er oder sie angeblich "hineingeboren" wurde, ist jedoch nur sein Körper, zu dem er oder sie den ursprünglichen und gesunden Kontakt verloren hat. Denn bei neu geborenen Klein-kindern gibt es noch gar keine Differenz zwischen dem eigenen Leib und der gefühlten oder gedachten Identität des sog. Selbst. Die Vorstellung vom eigenen Körper als einem Container, in dem die Seele, der Geist oder das eigene Selbst lebt oder wohnt, ist eine falsche und irreführende Vorstellun, die gegenwärtig weniger von Platon oder Pythagoras stammt, als vielmehr aus dem fernen Osten und dem indischen Mystizismus in die USA und den sog. Westen importiert wurde. 

 

Schöpfungsmythos und wissenschaftliches Weltbild

 

In der Moderne verstehen die meisten Menschen, dass die biblische Schöpfungsgeschichte ein schöner Mythos und kein wirklichkeitsgetreuer historischer Bericht ist. Dies ist eine Folge der europäischen Aufklärung und der Entstehung eines geschichtlichen Bewußtseins im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Daraus folgt jedoch nicht, dass die biblische Schöpfungsgeschichte nicht immer noch etwas Erhellendes über die besondere Situation des Menschen auf der Erde und in der schier unendlichen Weite des weithin leblosen Universums vermitteln kann. 

 

Denn dem biblischen Schöpfungsgeschichte zufolge ist der Mensch ein besonderes Geschöpf Gottes, das anders als

alle anderen Lebewesen auf der Erde zu einem qualitativ neuen scham- und schuldfähigen Bewusstsein des Guten und Bösen erwacht ist. Aufgrund dieses andersartigen Bewusstseins des Guten und Bösen, haben die Menschen ein Ge-wissen und einen freien Willen, die sie dazu befähigen, zwischen dem Richtigen und Falschen zu wählen. Daher ist ihre Freiheit keine bloße Willkürfreiheit, der zufolge sie tun und lassen können, was sie sich immer auch wünschen und wollen, sondern eine Freiheit, die mit einer persönlichen Verantwortung vor Gott, ihrem Schöpfer verbunden ist. 

 

Dem wissenschaftlichen Weltbild zufolge ist der Mensch jedoch nur ein natürliches Produkt der evolutionären Natur-geschichte, das vollständig durch innerweltliche Faktoren, wie Gene und Eltern, Erziehung, Ausbildung und Bildungs-weg, Erfahrung und Beruf, Gesellschaft und Kultur,  Epoche und Zeitgeist bestimmt ist. Es gibt nur eine Wahlfreiheit,

im Sinne einer Wahl zwischen absehbaren Folgen mit bestimmten Vor- und Nachteilen, aber eigentlich nichts Gutes

und Böses. Und selbst diese Wahlfreiheit wird durch unbewusste Faktoren determiniert, über die niemand selbst verfügen kann und für die daher auch niemand wirklich verantwortlich ist. 

 

Biblisches Menschenbild und Schicksal des Menschen 

 

Die Bibel ist zwar eine Sammlung ganz verschiedener Arten von Schriften, der Schöpfungsgeschichte, den geschicht-lichen und prophetischen Schriften, den Weisheitsschriften und Evangelien, den apostolischen Briefen sowie schließlich der rätselhaften Offenbarung des Johannes. Dennoch zieht sich durch die ganze Bibel hindurch, dass der Mensch nur "Fleisch" ist, das wie alles Irdische vom "Staub" (bildlich für die leblose Materie) genommen wurde und nach seinem Tod wieder zu "Staub" wird. Trotzdem sind die Menschen auch "beseelte Lebewesen", die durch den "Atem Gottes" belebt wurden. Gott aber ist ein ewiger Geist und existierte schon vor der Schöpfung von "Himmel und Erde" (bildlich für Alles, was es oben und unten gibt) "von Ewigkeit zu Ewigkeit".  

 

Da der Mensch "Fleisch" ist, ist er aufgrund seiner menschlichen Natur "fleischlich gesinnt". Auch in der Ehe werden Mann und Frau nur "ein Fleisch", bleiben jedoch "fleischlich gesinnt". Das heißt, aufgrund ihrer menschlichen Natur folgen die Menschen ihren natürlichen Trieben und Bedürfnissen, ihr Leben und ihre Gesundheit zu sichern, eine finanzielle Sicherheit und Reichtümer zu ergattern und ihr Ansehen und ihren Ruhm bei Anderen zu steigern, um auch nach ihrem Tod möglichst in Erinnerung zu bleiben und dadurch sozusagen unsterblich zu werden. Die Menschen haben Gott, ihren Schöpfer vergessen und versuchen aus eigener Kraft und ohne eine Beziehung zu Gott ein gutes Leben zu leben, das ihren eigenen Vorstellungen entspricht und das nach ihren eigenen Vorstellungen gut ist. 

 

Denoch ist in der Bibel die "fleischliche Gesinnung der Menschen" kein unentrinnbares Schicksal und keine unmittelbare Folge der an sich guten Schöpfung, sondern eine spätere Folge des ursprünglichen Sündenfalls und daher ein Übel, das die Menschen immer wieder davon abhält, wieder in eine gute und für sie heilsame Beziehung zu Gott, ihrem Schöpfer zu gelangen. Die Aufgabe der Propheten des Alten Israel war es gewesen, die Menschen zu ermahnen, umzukehren und Buße zu tun, um ihre "fleischliche Gesinnung" hinter sich zu lassen, um zu Gott zurückzukehren und um ein Leben nach dem Willen Gottes zu leben, wie er von ihm in der Thora offenbart worden ist.

 

Aber schon die Menschen im Alten Israel sind immer wieder daran gescheitert, aus eigener Kraft und in gemeinsamer Anstrengung des ganzen jüdischen Volkes, ihre "fleischliche Gesinnung" zu überwinden und zu einem besseren Leben nach dem offenbarten Willen Gottes zurück zu kehren. Der in der Thora offenbarte Wille Gottes, ein gesetzliches Leben nach der Thora zu führen, führte nur zu einem inneren Streit in der Seele der Menschen zwischen dem Fleisch und dem offenbarten Willen Gottes. Was nicht nur den Heiden, sondern auch den Juden noch fehlte, war die Fähigkeit zu einem Leben in einer heilsamen und schöpfungsgemäßen Beziehung zu Gott selbst, dessen Willen sie zwar in der Thora und im Tempel verehren konnten, von dessen lebendigem Geist sie jedoch seit dem Sündenfall immer noch abgeschnitten und getrennt waren.

 

Daher hat Gott seinen eigenen Sohn Jesus Christus in die Welt gesandt, um die Menschen aus ihrer mißlichen Lage zu befreien, zwar den Willen Gottes zu kennen, aber auf Dauer nicht die Kraft zu haben, ein gottgefälliges Leben im Frieden und in Einklang mit Gott und mit seiner Schöpfung zu leben. Die Evangelien handeln von dieser einmaligen "Rettungs-aktion" Gottes, die den Menschen dabei helfen sollte, durch Christus zu einer lebendigen Beziehung zu ihm zurück zu finden. Doch das war nur dadurch möglich, dass sie an Gott glauben und durch Christus den Heiligen Geist empfangen. 

 

Emanzipation und Transformation der Menschen durch das Evangelium

 

Aber klingt das nicht wie ein neuer Mythos bzw. wie eine Fortsetzung des biblischen Schöpfungsmythos vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Garten Eden, als die beiden exemplarischen Urmenschen Adam und Eva noch in einem mystischen Einklang mit der irdischen Natur gelebt haben sollen?

 

Das wissenschaftliche Weltbild und die wissenschaftliche Erforschung der menschlichen Natur und des menschlichen Verhaltens kann davon nichts wissen. Denn es gehört nun einmal seit der Neuzeit zur Methode wissenschaftlicher Forschung, dass Forscher von ihrem jeweiligen subjektiven Befinden absehen, um nur ganz objektiv festzustellen, was der Fall (gewesen) ist und was nicht, was sie intersubjektiv beobachten können und was nicht. Dann erst können sie ihre Hypothesen aufstellen und ihre Theorien weiter entwickeln, um in ihrem Lichte die bereits bekannten Phänomene und die neuen Beobachtungen besser zu verstehen und erklären zu können. 

 

Was aber, wenn Menschen aufrichtig davon berichten, wie sie persönlich zum Glauben an Gott und den auferstande-nen Christus gefunden haben und wie sie durch eine Bekehrung und Hinwendung zu Christus von ihren Scham- und Schuldgefühlen wegen ihrer früheren Verfehlungen sowie von ihren anhaltenden Schwächen und schlechten Gewohn-heiten befreit wurden? Müssen ihre Freunde und Kollegen, ihre Nachbarn und Bekannte und gerade auch Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater solche aufrichtigen Erzählungen nicht ebenso ernst nehmen? Und warum sollten

sie sie nicht ebenso akzeptiren, wie andere Heilungen durch medikamentöse oder andere Therapien?

 

Was sollte dagegen sprechen, solche aufrichtigen Erzählungen subjektiver Glaubenserfahrungen für wahr zu halten, obwohl sie sich nicht methodisch überprüfen, objektiv verstehen und wissenschaftlich erklären lassen? Schließlich gibt es nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse und Wahrheiten, sondern auch menschliche Selbsterkenntnis und ethisches Wissen davon, was gut und was böse ist. Solange sich Menschen ihren persönlichen Erfahrungen gemäß glaubhaft verändert haben und bessere Menschen geworden sind, handelt es sich um etwas Wirkliches, auch wenn es sich nicht wissenschaftlich erklären lässt und obwohl es unser bisheriges Verständnis von der Natur und vom Menschen über-schreitet, da es mit mythischen und symbolischen Inhalten von Vorstellungen und Emotionen, Gedanken und Urteilen zu tun hat. 

 

Die Wirklichkeit des persönlichen Befindens jenseits objektiver wissenschaftlicher Erkenntnisse

 

Obwohl es auch subjektive Selbsttäuschungen gibt und obwohl wir gerade auch das persönliche Befinden anderer Menschen falsch einschätzen können, wäre es falsch, das persönliche Befinden insgesamt als "bloß subjektiv" abzu-werten oder für weniger wirklich zu halten als die objektiv erforschbaren Tatsachen über unseren menschlichen Organismus oder über unsere Lebenswelt. 

 

Jedenfalls folgt aus der Anerkennung des eigenen persönlichen Empfindens und der persönlichen Empfindens der Anderen, dass nicht nur der weltanschauliche Materialismus, demzufolge alles, was es in der raumzeitlichen Welt gibt, nur aus Materie und Energie besteht, nicht stimmen und nicht überzeugen kann. Auch der weltanschauliche Natura-lismus, demzufolge alles, was es in der raumzeitlichen Welt gibt, ganz natürlich ist und zur Natur gehört, kann weder stimmen noch überzeugen.

 

Die menschliche Psyche und der menschliche Geist gehören einfach nicht mehr zur Natur und lassen sich daher auch nicht mehr naturwissenschaftlich (physikalisch, chemisch, biologisch, etc.) erforschen. Psychologie und Psychiatrie sind zwei Wissenschaften, die auf jeden Fall die Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie, etc.) überschreiten und an

die Geistes- und Kulturwissenschaften angrenzen (Philosophie, Theologie, Philologien, Linguistik, etc.). 

 

Auch der Empirismus, also die erkenntnistheoretische Überzeugung, dass man nur wissen kann, was man mit seinen Sinnen wahrnehmen und beobachten kann, stimmt nicht und ist falsch. Denn nicht nur in der Logik und Mathematik kann man Vieles wissen, was sich nicht direkt wahrnehmen oder beobachten lässt, sondern in allen Wissenschaften gehen wissenschaftliche Hypothesen und Theorien wei über das Wahrnehmbare und Beobachtbare hinaus. Die Er-fahrungsbasis ist zwar in allen Wissenschaften eine wichtige Verankerung in der Wirklichkeit, aber Hypothesen und Theorien werden immer auch von einem möglichst kohärenten Netz von abstrakteren Begriffen, Überzeugungen und Schlüssen getragen und zusammen gehalten.

 

Das gilt auch in der Psychologie und Psychiatrie und im alltäglichen Leben bei Vermutungen über das, was in der Psyche

(psyche) und im Geist (mind) anderer Menschen vorgeht. Es ist eine ganz alltägliche und erfolgreiche menschliche Praxis, aus dem wahrnehmbaren und beobachtbaren Verhalten auf die Gedanken und Annahmen, Vermutungen und Über-zeugungen, Absichten und Entscheidungen andere Menschen zu schließen. Das zu vergessen, für problematisch oder gar für unmöglich zu halten, war der fundamentale Fehler des empiristischen Behaviorismus in der Psychologie.

 

Das persönliche Empfinden, die subjektive Evidenz des freien Willens und das ethische Wissen des Gewissens, dass es gute und böse Absichten, Motive, Entscheidungen, Taten und Unterlassungen gibt, sprechen ganz einfach dafür, dass Menschen sich selbst nicht nur als natürliche physische Organismen in der Natur verstehen und erklären können, die durch noch unbekannte und unbewusste neuronale Ereignisse und Prozesse in unseren Gehirnen und Nervensystemen gesteuert werden, sodass niemand für seine Absichten, Motive, Entscheidungen, Taten und Unterlassungen verant-wortlich ist und zur Rechenschaft gezogen werden kann. 

 

Die ältere und über viele Jahrhunderte hinweg bewährte Auffassung, dass der Mensch dem biblischen Menschenbild zufolge nicht nur "Fleisch" ist, sondern auch eine Seele (soul) hat, als die Gesamtheit der vielfältigen psychischen Phänomene und Fähigkeiten und darüber hinaus einen Geist (mind) hat, als die Gesamtheit der vielfältigen geistigen Phänomene und Fähigkeiten, teilen nicht nur Juden, Christen und Muslime, sondern auch die Gäubigen anderer Religionen und Konfessionen der Menschheit. Insofern gehört sie zum Kernbestand der Menschenbilder der über-lieferten Philosophien und Religionen der Menschheit.  

 

Die Wirklichkeit des Psychischen und des Geistigen in der erforschbaren Natur des Menschen 

 

Nach Descartes wurde es bei Kant und den Philosophen des Deutschen Idealismus üblich, anstelle von Leib, Seele und Geist vorzugsweise dualistisch vom "Bewußtsein" im Unterschied zum Körper zu sprechen. Aber das Bewusstsein ist weitaus weniger als die Einheit von Leib, Seele und Geist. Wenn jemand einschläft oder bewußtlos wird, kann jemand zwar im Schlaf oder in der Bewußtlosigkeit vorübergehend nicht mehr durch seine Antworten auf bestimmte Fragen zeigen, was er oder sie weiß; aber das bedeutet wohl kaum, dass er oder sie etwas Bestimmtes nicht (mehr) weiß.

Nicht nur logisches und mathematisches Wissen, das jemand gelernt hat, sondern auch eine ganze Fülle von Wissen über sich selbst, über andere Menschen und über seine Lebenswelt bleibt in der Regel auch dann erhalten, wenn jemand einschläft oder vorübergehend bewußtlos wird. Die dualistische Bewußtseinsphilosophie des 19. Jahrhunderts hatte das unter dem Einfluss des englischen Empirismus nur vergessen und brachte daher keinen klaren Fortschritt gegenüber der älteren und bewährten Philosophie der Einheit von Leib, Seele und Geist.

 

Zwar gibt es auch begrenzte und völlige Amnesien nach schweren Unfällen und Läsionen des Gehirns sowie begrenzte Ausfallerscheinungen nach Schlaganfällen und anderen Schädigungen bestimmter Regionen des Gehirns. Aber das menschliche Bewusstsein ist nicht einmal das Ganze der Seele und des Geistes, sondern nur ein begrenzter Bereich dessen, was für einen selbst im Wachzustand zugänglich ist.

 

Sigmund Freud, der in Wien bei Franz Brentano studiert hatte, hat daher mit seiner psychologischen Lehre vom Unbewussten jenseits des bewussten Ich und des Über-Ich der Ideale, Prinzipien, Normen und Werte nicht an die Bewußtseinsphilosophie von Kant und vom Deutschen Idealismus, sondern wie Brentano an die psychologischen Konzeptionen von Aristoteles (drei Schichten der menschlichen Psyche), von Leibniz (Realität unbewusster Wahr-nehmungen) und von Locke (Realität unwillkürlicher Assoziationen) angeknüpft.  

 

Ein weiterer Nachteil der Bewußtseinsphilosophien von Kant und vom Deutschen Idealismus war der Verlust der theo-logischen Unterscheidung zwischen dem Geist (nous, mens, mind) und dem Geistlichen (pneuma, spiritus, spirit). Wenn

christliche Theologen vom "Heiligen Geist" als der Dritten Person der Trinität sprechen, dann hat das mit dem Geist im Sinne des griechischen Nous etwa bei Aristoteles, mit dem Geist im Sinne des scholastischen mens etwa bei Descartes und mit dem Geist im Sinne der englischen Philosophy of Mind von Gilbert Ryle bis Thomas Nagel nichts zu tun.

 

Wenn im biblischen Schöpfungsmythos Gott seinem Geschöpf, dem allegorischen Urmenschen Adam seinen Geist "einhaucht", geht es um seinen Atem (pneuma) als einer belebenden Vitalkraft, die aus einem leblosen Klumpen Erde erst ein belebtes Lebewesen macht. Es geht dabei nur um eine mythologische Erklärung der Erschaffung des Lebewesens Mensch. Es geht dabei noch nicht um die Frage, wie der allegorische Urmensch anders als die Tiere zu einem Ebenbild Gottes geworden ist. Es geht dabei also auch noch nicht um seinen sprachlichen Geist (nous) als der menschlichen Kraft seiner Vorstellungen, Gedanken und Urteile, und damit um seine Gabe zu allerlei Entdeckungen

und Erfindungen sowie um sein Wissen um den Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen. 

 

Person und Persönlichkeit als Einheit von Leib, Seele und Geist 

 

Die moderne Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie haben daher aus guten Gründen weder an die Bewußtseins-philosophien von Kant und vom Deutschen Idealismus noch an an den Behaviorismus der Nachkriegszeit angeknüpft. Nach der "kognitven Wende" im Anschluss an Bandura, Chomsky, Fodor, Piaget, Kohlberg, Erikson u.a. stand nicht mehr das äußerlich sichtbare Verhalten bei gleichzeitiger Enthaltung von psychologischen Annahmen über interne psychische Vorgänge (Denkvorgänge und Überzeugungen, Emotionen und Motivationen, Intuitionen und Reflexionen, Erinne-rungen und Antizipationen, Lernen und Probleme lösen, etc.) im  Vordergrund, sondern wieder die Erforschung eben dieser internen psychischen Vorgänge selbst. Damit konnte man anfangen, das menschliche Verhalten nicht mehr nach dem allzu simplen behavioristischen Reiz-Reaktions-Modell aus der biologischen Verhaltensforschung zu erklären.

 

Jetzt hat man aus guten Gründen angenommen, dass alle Menschen ihre jeweiligen neuen Erfahrungen immer schon auf dem persönlichen Hintergrund ihrer früheren Erfahrungen, Informationen und Überzeugungen interpretieren und verarbeiten, bevor sie auf die aktuellen externen Situationen, Herausforderungen und Probleme in ihrer Umwelt und Lebenswelt antworten. Auf diese Weise konnten auch wieder die Konzeption der menschlichen Person als einer Einheit von Leib, Seele und Geist und der individuellen Persönlichkeit als ihre einmalige Ausprägung zu Grundbegriffen und Forschungsthemen der Wissenschaften von der menschlichen Psyche gemacht werden.

 

Dadurch konnten zwar wie bei Brentano auch wieder die aristotelische Konzeption der drei Schichten der menschlichen Psyche, Leibniz' Überzeugung von der Realität unbewusster Wahrnehmungen und an Lockes Überzeugung von der Realität unwillkürlicher Assoziationen in das Menschenbild der kognitiven Psychologie integriert werden, ohne sich auf die alten psychoanalytischen Dogmen einer angeblichen kausalen Dominanz des Unbewussten (vor der  psycho-analytischen Therapie) zu versteifen. Leider haben trotz der kognitiven Wende immer noch nicht viele moderne Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater auch Brentanos Theorie der Intentionalität der psychischen Phäno-mene und Fähigkeiten in das moderne Menschenbild der kognitiven Psychologie integriert.

 

Nach der Popularisierung des modernen Menschenbildes der kognitiven Psychologie neigen jedoch nur allzu viele Menschen dazu, die Wahrnehmungen und Beobachtungen, die Wertantworten und Urteile anderer Menschen wegen möglicher Einflüsse durch ihre frühere Erfahrungen, Informationen und Überzeugungen zu subjektivieren und zu relativieren. Insbesondere Nietzsches sog. "Perspektivismus" hat dazu geführt, dass nicht nur Wahrnehmungen und Beobachtungen realer Sachverhalte als perspektivisch angesehen werden (was sie sind), sondern grundsätzlich alle objektiven Urteile über irgendwelche Sachverhalte und Tatsachen, auch wenn diese nicht von einer Beobachter-perspektive abhängen. Damit kann man Äußerungen und Stellungnahmen, die einem nicht passen oder die den eigenen Interessen zuwiderlaufen, leicht infrage stellen und relativieren. 

 

Die psychologische zutreffende Einsicht in eine gewisse psychologische Bedingtheit der Wahrnehmungen und Beo-bachtungen, der Wertantworten und Urteile aller Menschen hat dann zu einer allgemeinen und übertriebenen Per-spektivierung, Subjektivierung und Relativierung aller Wahrnehmungen und Beobachtungen, Wertantworten und Urteile geführt. Brentanos Theorie der Intentionalität der psychischen Phänomene und Fähigkeiten besteht jedoch auf der Bezogenheit der Inhalte der psychischen Phänomene und Fähigkeiten, der gegebenenfalls auch eine zutreffende Wahrnehmung oder Beobachtung oder eine angemesene Wertantwort oder ein zutreffendes Urteil sein kann. Insofern ist es trotz einer gewissen psychologischen Bedingtheit der Wahrnehmungen und Beobachtungen, der Wertantworten und Urteile durchaus möglich, dass jemand die Wirklichkeit so wahrnimmt und beobachtet, wie sie wirklich ist, eine angemessene Wertantwort findet und eine Situation angemessen beurteilt.  

 

Zumindest gibt es Menschen, die aufgrund ihrer bisherigen Erfahrung und Reife sowie aufgrund ihrer persönlichen Urteilskraft besser dazu in der Lage sind, i bestimmten Angelegenheiten die Wirklichkeit so wahrzunehmen und zu beobachten, wie sie wirklich ist, eine bestimmte Situation und ein Problem angemessener zu beurteilen als Andere

und eine angemessenere Wertantwort auf eine Situation oder ein Problem zu finden als Andere. Die populistische Unterstellung, dass es im Hinblick auf die Urteilskraft und die Kompetenz zur angemessenen Einschätzung bestimmter Situationen keine Unterschiede geben würde und dass alle Menschen in dieser Hinsicht grundsätzlich gleich zuverlässig seien, stimmt erfahrungsgemäß nicht.