Kritische Theorie

 

„WAS WIR 'SINN' NENNEN, WIRD VERSCHWINDEN“

 

Max Horkheimer - Der Spiegel - 05.01.1970

 

SPIEGEL: Herr Professor, Sie und Ihr Freund Adorno waren die Begründer der Kritischen Theorie, die jahrelang als die Philosophie der revolutionären Jugend in Deutschland galt. Neuerdings haben Sie sich zu vielen Fragen in einer Weise geäußert, die als konservativ interpretiert worden ist. Sie haben im Streit um die Pille Papst Paul halbwegs verteidigt. Sie haben vom Stalinschen Faschismus gesprochen. Sie haben die Art, wie Theologie liberalisiert wird, kritisiert und den Rückgang der Gewissensbildung infolge der Erschütterung der väterlichen Autorität denunziert. Über alle diese Themen möchten wir mit Ihnen noch im einzelnen sprechen ... 

 

HORKHEIMER: Das sind sehr ernste Fragen. Sie bedürfen höchst eingehenden Nachdenkens. Sicher werden wir in diesem Gespräch Antworten nur andeuten können.

 

SPIEGEL: Schön wäre, wenn dabei klar würde, wo der Zusammenhang zwischen Ihren jüngsten Äußerungen, etwa über Papst Paul oder die neue Theologie, und der von Ihnen und Ihrem Freund Adorno entwickelten Kritischen Theorie zu finden ist. Für viele Menschen galt die Kritische Theorie bislang als marxistisch und revolutionär; eine Bestätigung für diese Annahme glaubten viele darin zu sehen, daß zahlreiche Führer der deutschen studentischen Protestbewegung aus dem Umkreis Ihres Frankfurter Instituts kamen.

 

HORKHEIMER: Die Kritische Theorie hat immer eine doppelte Aufgabe gehabt: das zu Verändernde zu bezeichnen und gewisse kulturelle Momente zu bewahren. Darüber hinaus hat sie den Prozeß der Veränderung zu beschreiben, dem unsere Welt unterworfen ist.

 

SPIEGEL: Welcher Art ist diese Veränderung? Ähnelt sie etwa der, die Sie Ende der zwanziger Jahre in Deutschland heraufkommen sahen? Damals ahnten Sie Hitler voraus. Wie sehen Sie heute Deutschlands Zukunft?

 

HORKHEIMER: Da muß ich Ihnen gestehen, daß ich heute eine bestimmte Voraussage für die nächsten Jahre nicht habe. Wahrscheinlich wird die Geschichte Deutschlands gemäß der Logik ablaufen, die der Entwicklung der Staaten heute überall immanent ist.

 

SPIEGEL: Und was besagt diese Logik?

 

HORKHEIMER: Daß die Staaten, also auch die Bundesrepublik, im Innern total verwaltet werden. Ich sage nicht, daß sie totalitär, daß heißt mit Schrecken, verwaltet werden.

 

SPIEGEL: Wie verhält sich diese Perspektive zur Utopie von Karl Marx?

 

HORKHEIMER: Marx hat gemeint, die richtige Gesellschaft wird kommen, wenn die Produktionsmittel voll entwickelt sein werden. Dann - wenn also alle für die Befriedigung der Bedürfnisse notwendigen Produkte hergestellt werden können - werde keine Herrschaft mehr notwendig sein, werde es keine herrschenden und beherrschten Klassen mehr geben, sei es infolge von Revolution oder kraft immanenter Notwendigkeit.

 

SPIEGEL: Aber daß damit die wahre, die richtige Gesellschaft verwirklicht sein wird, glauben Sie nicht?

 

HORKHEIMER: Nicht mehr.

 

SPIEGEL: Seit wann?

 

HORKHEIMER: Am Ende des Ersten Weltkrieges fing ich an, mich mit Marx zu beschäftigen - weil ich mir bewußt wurde, daß ich mich um die Probleme der Gesellschaft kümmern sollte. Dann bin ich ein Anhänger von Marx geworden. Das hat sich intensiviert, je näher wir dem Nationalsozialismus kamen. Mir wurde immer deutlicher, daß es nur zwei Mög-lichkeiten gäbe, entweder die Herrschaft des Nationalsozialismus oder die Revolution. Der Marxismus schien mir die Antwort auf die Schreckensherrschaft des Totalitären von rechts. Während des Zweiten Weltkrieges begann ich mich jedoch vom Marxismus zu entfernen.

 

SPIEGEL: Warum?

 

HORKHEIMER: Weil ich feststellte, daß der Nationalsozialismus auch auf andere Weise - jedenfalls durch Krieg - beseitigt werden konnte. Dafür, daß Revolution auch zum Terror führen könnte, war Stalins Schreckensherrschaft ein Symbol.

 

SPIEGEL: Sehen Sie im Terror Stalins die notwendige Konsequenz des Marxismus-Leninismus?

 

HORKHEIMER: Zumindest die Konsequenz der dortigen historischen Situation. Rußland hat im 19. Jahrhundert die wichtige Periode des Liberalismus weitgehend übersprungen. Das hat zwar wirtschaftlich nichts geschadet, denn die russische Gesellschaft konnte die Errungenschaften des Liberalismus, nämlich Wissenschaft und Technik, sozusagen als fertige Produkte aus Westeuropa übernehmen. Was es jedoch nicht wirklich übernahm, waren die Motive, welche im Westen den Errungenschaften des Liberalismus zugrunde lagen. Ich meine den Drang nach Freiheit, nach Entfaltung des Menschen und Entwicklung der Person.

 

SPIEGEL: Sie wollen sagen, Wissenschaft und Technik seien in Rußland kein Produkt einer spontanen Bewegung von unten gewesen?

 

HORKHEIMER: Ja - und das hat Folgen gehabt. Meiner Ansicht nach wird noch heute soziologisch zu wenig beachtet, daß die Entfaltung des Menschen mit der Konkurrenz, also dem wichtigsten Element der liberalistischen Wirtschaft, zusam-menhängt. Durch den Wettbewerb im Gebiet des Wirtschaftlichen ist auch der Geist gefördert worden.

 

SPIEGEL: Das ist ja in gewisser Weise ein Plädoyer für den Kapitalismus.

 

HORKHEIMER: Es ist wahr, daß etwa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in vielen Ländern bis in die zweite hinein, die Situation des Proletariats grauenvoll war; man denke allein an die Kinderarbeit. Trotzdem, bei aller historischen Dialektik scheint mir, je mehr ich nachdenke, die Funktion des Liberalismus überaus wichtig. Der Gedanke, es fördere den freien Menschen, wenn es in der Gesellschaft keine Konkurrenz mehr gäbe, scheint mir ein optimistischer Irrtum zu sein.

 

SPIEGEL: Inwiefern ein Irrtum?

 

HORKHEIMER: Marx ist nicht darauf eingegangen, daß Gerechtigkeit und Freiheit dialektische Begriffe sind. Je mehr Gerechtigkeit, desto weniger Freiheit; je mehr Freiheit, desto weniger Gerechtigkeit. Freiheit. Gleichheit, Brüderlichkeit - wunderbar! Aber wenn Sie die Gleichheit erhalten wollen, dann müssen Sie die Freiheit einschränken, und wenn Sie den Menschen die Freiheit lassen wollen, dann gibt es keine Gleichheit.

 

SPIEGEL: Das ist sehr pessimistisch.

 

HORKHEIMER: Marx projizierte die allseitige Entfaltung der Persönlichkeit als Ziel in die Zukunft. Doch war eben diese Entfaltung weitgehend eine Konsequenz des liberalistischen Zeitalters, die mit dem Liberalismus zu verschwinden tendiert.

 

SPIEGEL: Warum?

 

HORKHEIMER: Sehr einfach, weil alles dirigiert werden und der Spielraum für die freie Initiative immer geringer werden wird. Sehen Sie, ich denke da an meinen Vater. Er ließ die Abfälle von Webereien und Wäschefabriken durch Maschinen aufreißen und zu neuen Materialien für Spinnereien verarbeiten. Wie sollte er wohl anders dazu gekommen sein als durch den Impuls, man könne dadurch ein reicher Mann werden? Der Konkurrenzkampf veranlaßte ihn, sich praktisch anzustrengen, gar nicht so unähnlich, wie ich selbst mein ursprüngliches philosophisches Interesse den Anforderungen einer akademischen Laufbahn gemäß entfaltete, um meine geliebte, kürzlich verstorbene Frau angemessen erhalten zu können.

 

SPIEGEL: Wenn die Entwicklung der Gesellschaft einer ihr selbst immanenten Logik unterliegt, wenn die Anpassungs-zwänge für den Einzelmenschen immer größer werden, wozu kann da eine Gesellschaftstheorie überhaupt noch nütze sein?

 

HORKHEIMER: Da werde ich zunächst bescheiden sagen: Wir leben ja noch nicht in der vollautomatisierten Gesellschaft. Und: Im einzelnen können wir auch heute noch eine ganze Masse von Dingen tun, selbst wenn sie später überholt werden sollten.

 

SPIEGEL: Können wir uns dem, was Sie die immanente Logik der gesellschaftlichen Entwicklung nennen, widersetzen, also die Entstehung der total verwalteten Welt verhindern?

 

HORKHEIMER: Nein - aber vielleicht helfen, manches Positive zu bewahren und grauenvolle Zwischenfälle zu vermeiden.

 

SPIEGEL: Wie die Schreckensherrschaft Hitlers und Stalins?

 

HORKHEIMER: Ja. Obwohl ich auch da skeptisch sein muß. Wenn Hitler sich darauf beschränkt hätte, Menschen nur in Deutschland umzubringen, dann hätte keiner der großen Staaten gegen ihn eingegriffen. Das wären ja dann soge-nannte innere Angelegenheiten des Reiches gewesen. Krieg haben die großen Staaten mit Hitler wegen Machtfragen geführt. So ist es heute auch. Gegenwärtig verhält sich der Westen gegenüber den östlichen Staaten wie ehemals zu Hitler. Im Innern können sie grauenvolle Dinge begehen, ohne daß man sich im geringsten darum kümmerte. Wenn westliche Minister die östlichen sehen und begrüßen: freundliche Mienen und Reden, auch wenn der andere ein Massenmörder ist. Über die scheinbaren Ausnahmen, etwa Griechenland, will ich hier nicht diskutieren.

 

SPIEGEL: Sie verlangen moralische Politik?

 

HORKHEIMER: Ich halte es nicht für richtig, daß man sich zu terroristischen Staaten auch nur ähnlich verhält wie zu andern.

 

SPIEGEL: Kalter Krieg?

 

HORKHEIMER: Nein, kalter Frieden!

 

SPIEGEL: Aber wie soll man in politischen Verhältnissen feststellen, wo die Moral ist. Im Falle Hitler war das relativ einfach, zumindest von dem Zeitpunkt an, wo die Judenmorde bekannt wurden ...

 

HORKHEIMER: Genau.

 

SPIEGEL: ... aber wo soll heute so ein Punkt sein, ein Punkt also, wo eine moralische Betrachtungsweise zwingend wird? Wobei man ja noch bedenken muß, daß man durch Verhandlungen vielleicht etwas Moralisches erreichen könnte. Daran darf doch ein Minister denken, wenn er einem, den er möglicherweise für einen schlechten Menschen hält, freundlich gegenübertritt.

 

HORKHEIMER: Ich weiß gar nicht, ob er das denkt. Ich habe den Verdacht, daß die moralische Integrität des Partners kaum eine Rolle spielt. Der andere ist eben der Minister eines mächtigen Landes, mit dem wir auskommen müssen. Daran zu denken, daß dort Hunderttausende von Menschen in Gefängnissen oder Konzentrationslagern schmachten, das kommt ihm eigentlich gar nicht in den Sinn. Darum halte ich es für die Aufgabe der Intellektuellen, immer wieder darauf hinzuweisen, daß die Vertreter von Staaten, in denen jeden Tag grauenvolles Unrecht geschieht, anders behandelt werden sollten als die Vertreter einigermaßen menschlicher Staaten.

 

SPIEGEL: Soll man deren Diplomaten nicht empfangen?

 

HORKHEIMER: Stellen Sie sich zum Beispiel vor, daß in einem Land der Faschismus oder der terroristische Kommunis-mus ausbricht. Heutzutage ändert sich daraufhin in den Beziehungen der sogenannten zivilisierten Staaten zu diesen Ländern kaum etwas. Die denkenden Menschen sollten deshalb darauf drängen, daß die Länder ihr Verhältnis zu den terroristischen Staaten entscheidend ändern.

 

SPIEGEL: Woher wissen die denkenden Menschen, was gut ist?

 

HORKHEIMER: Ich habe geschrieben, daß Politik, welche nicht Theologie oder Metaphysik, damit natürlich auch Moral, in sich bewahrt, letzten Endes Geschäft bleibe.

 

SPIEGEL: Gute, moralische Politik sei also, meinen Sie, nicht ohne Theologie möglich?

 

HORKHEIMER: Zumindest nicht ohne Gedanken an ein Transzendentes.

 

SPIEGEL: Was meinen Sie damit?

 

HORKHEIMER: Erst einmal möchte ich über die Kritiker der Theologie sprechen, die Positivisten also, und deutlich machen, daß sich aus der Position des Positivismus keine moralische Politik ableiten läßt. Wissenschaftlich betrachtet, ist Haß bei aller sozial-funktionellen Differenz nicht schlechter als Liebe. Es gibt keine wissenschaftliche Begründung, warum ich nicht hassen soll, wenn ich mir dadurch in der Gesellschaft keine Nachteile zuziehe. Alles, was mit Moral zusammenhängt, geht logisch letzten Endes auf Theologie, jedenfalls nicht auf säkulare Gründe zurück, wie sehr man sich auch bemühen mag, die Theologie behutsam zu fassen.

 

SPIEGEL: Also auf Gott?

 

HORKHEIMER: Zumindest - darin gehe ich mit Kant und Schopenhauer einig - weiß ich, daß die Welt Erscheinung ist.

Wie wir sie kennen, ist sie nicht absolut, sondern Ordnungsprodukt unserer intellektuellen Funktionen. Jedenfalls ist sie nicht das Letzte.

 

SPIEGEL: Und was ist das Letzte?

 

HORKHEIMER: Religion lehrt, daß es einen allmächtigen und allgütigen Gott gibt. Ein kaum glaubhaftes Dogma ange-sichts des Grauens, das seit Jahrtausenden auf dieser Erde herrscht!

 

SPIEGEL: Und?

 

HORKHEIMER: Ich würde sagen, man solle Theologie erneuern. Es ist keine Gewißheit, daß es einen allmächtigen Gott gibt. Ja, wir können es nicht einmal glauben angesichts dieser Welt und ihres Grauens.

 

SPIEGEL: Was bleibt dann?

 

HORKHEIMER: Die Sehnsucht.

 

SPIEGEL: Wonach?

 

HORKHEIMER: Sehnsucht danach, daß es bei dem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleiben soll. Daß das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge. Diese Sehnsucht gehört zum wirklich denkenden Menschen.

 

SPIEGEL: Also eine neue Religion?

 

HORKHEIMER: Nein, wir können nicht eine neue Religion gründen. Mögen die alten Konfessionen weiter existieren und wirken in dem Eingeständnis, daß sie eine Sehnsucht ausdrücken und nicht ein Dogma.

 

SPIEGEL: Heißt das Liberalisierung der Religion, wie sie heute im Gange ist?

 

HORKHEIMER: Nicht schlechthin. Die moderne Liberalisierung der Religion führt, wie ich meine, zum Ende der Religion. Unbewußt oder halbbewußt kommt jedermann dabei zur Überzeugung, daß die Liberalisierung der Theologie der gängigen Politik entspricht. Es werden Konzessionen gemacht, Kompromisse geschlossen, es wird mit der Wissenschaft paktiert - als ob Wissenschaft mehr dazu sagen könnte, als daß die Erde ein Mikro-Atom sei, ein Kügelchen mit einem Schimmelüberzug, schwebend im unendlichen Universum.

 

SPIEGEL: Und was soll Religion zu solcher Erbärmlichkeit des Lebens, zu dem Unrecht, das ihm widerfährt, sagen?

 

HORKHEIMER: Dem Willen Ausdruck geben, daß dieses Unrecht, daß der eine schuldlos zu Tode gemartert wird, der Henker triumphiert, nicht das letzte Wort sei, vor allem jedoch so handeln, wie es der auf Sehnsucht begründeten Theologie entspricht.

 

SPIEGEL: Glauben Sie, daß eine solche Sehnsucht ausreicht, um moralisches Handeln zu ermöglichen, zumal auf einem Feld wie dem der Politik? Vor sechs Jahren haben Sie in einem Aufsatz für Ihren Freund Adorno geschrieben: "Einen un-bedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel." Das führt zu der Frage: Wenn es keinen Gott gäbe, und wenn es infolg-edessen keinen unbedingten Lebens-Sinn gäbe - worauf sollte sich dann der Moralist in der Politik berufen können?

 

HORKHEIMER: Auf Gott berufen? Das können wir nicht. Zumindest ist das meine Auffassung: Wir können nicht behaup-ten, es gäbe einen guten und allmächtigen Gott. Aber Sie haben ganz recht, dann kann man sich also auch nicht auf Gott berufen. Man kann nur handeln mit dem inneren Antrieb, möge es so sein ...

 

SPIEGEL: Möge es so sein, daß es einen guten Gott gibt?

 

HORKHEIMER: Adorno und ich - wer von uns beiden es zuerst formuliert hat, weiß ich heute nicht mehr -, auf jeden Fall haben wir beide nicht mehr von Gott, sondern von der "Sehnsucht nach dem Anderen" gesprochen.

 

SPIEGEL: Diese Behutsamkeit im Umgang mit Gottes Namen ist - wie häufig festgestellt - jüdisches Erbe.

 

HORKHEIMER: Ja. Und zwar auch in der Weise, daß diese Behutsamkeit in unsere Gesellschaftstheorie, die wir die Kritische nannten, eingegangen ist. "Du sollst Dir kein Bild von Gott machen", heißt es in der Bibel. Du kannst nicht darstellen, was das absolute Gute ist. Der fromme Jude versucht, das Wort "Gott" nach Möglichkeit zu vermeiden, ja er schreibt es nicht aus, sondern macht ein Apostroph. So nennt auch die Kritische Theorie das Absolute vorsichtig "das Andere". Was mich bewegt, ist die theologische Idee angewandt auf eine vernünftige Theorie der Gesellschaft.

 

SPIEGEL: Etwa in der Weise, wie das auch bei Marx oder bei Ernst Bloch der Fall war?

 

HORKHEIMER: Für diese beiden ist - meinem Gefühl nach - zuvörderst der Messianismus bestimmend gewesen, für mich die Idee, daß Gott nicht darstellbar ist.

 

SPIEGEL: Marx glaubte aber, die Heraufkunft, den Beginn des absolut Guten in Gestalt der klassenlosen Gesellschaft vorauszusagen.

 

HORKHEIMER: Auf jeden Fall ist es so gedeutet worden. Im übrigen ließe sich anmerken, daß die Solidarität des Pro-letariats in den sogenannten entwickelten Ländern sich schon seit langem auf bessere Lebensgestaltung als den realen Sinn radikaler Veränderung der Gesellschaft bezieht. Marx war Materialist.

 

SPIEGEL: Ergibt sich daraus die einzige Solidarität?

 

HORKHEIMER: Nein, darüber hinaus könnte eine Solidarität entstehen, die den Menschen notwendig zugehört. Sie ergibt sich daraus, daß sie endliche Wesen sind, daß sie leiden und sterben müssen.

 

SPIEGEL: Was soll diese Solidarität aller Menschen im Bewußtsein ihrer Verlassenheit bewirken?

 

HORKHEIMER: Zunächst einmal das Gemeinsame, die Fragwürdigkeit der Welt im Leiden und Sterben. Weiterhin die gemeinsame Bemühung um eine bessere Existenz.

 

SPIEGEL: Indem Sie über die Rivalität der Welt, über die Verlassenheit des Menschen, sprechen, reden Sie zugleich über das Absolute, also Gott. Ist das nicht ein Gottesbeweis?

 

HORKHEIMER: Nein, das ist kein Gottesbeweis. Ich würde sagen, es ist ein theologisches Postulat.

 

SPIEGEL: Wie kann ich wissen, daß ich verlassen bin, wenn kein Gott da ist? Wie kann ich Kritik an der relativen Welt üben, wenn ich vom Absoluten nichts weiß?

 

HORKHEIMER: Die Verlassenheit ist nur möglich, da haben Sie recht, durch den Gedanken ans Absolute. Aber die Gewißheit von Gott ist unmöglich.

 

SPIEGEL: Aber wie kommt dann das Gute in die verlassene Welt?

 

HORKHEIMER: Nach der jüdischen und christlichen Lehre kommt das Gute von Gott nur mittelbar. Er soll den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen haben, und der Mensch habe demnach einen freien Willen. Wenn er das Gute tut, tut er es aus freiem Willen und nicht bloß aus Furcht vor Gott, genauso wie er das Schlechte tut, das ja gewiß nicht von Gott kommt.

 

SPIEGEL: Dieser freie Wille hat - so die Bibel - zur Erbsünde, zur Vertreibung aus dem Paradies geführt, aufgrund deren auch die Hoffnung auf den Messias zu erklären ist, der die Menschheit in das Paradies zurückführen soll - oder wie manchmal gesagt wird: nach Zion.

 

HORKHEIMER: Wir sprachen vorhin schon darüber, daß mir das Messianische problematisch ist. Ich sagte, daß für mich, wie Kant lehrt, das Absolute nicht darstellbar ist. Bei der Gründung des Staates Israel ergab sich, wenn ich nicht irre, das Problem, daß es doch irgendwo heißt, der Messias werde die Gerechten aller Völker nach Zion führen. Ich denke heute noch darüber nach, wie der Staat Israel mit dieser Prophezeiung in Verbindung steht. Ist Israel das biblische Zion?

 

SPIEGEL: Worin sehen Sie die Lösung des Problems?

 

HORKHEIMER: So wie die Dinge sind, scheint mir die Lösung darin zu liegen, daß die Verfolgung der Juden - und die gehört ja zu der Prophezeiung - trotz Israel noch weitergeht. Israel ist ein bedrängtes Land, wie die Juden immer bedrängt waren. Man kann der Gründung des Staates nicht entgegen sein, weil allzu viele Menschen sonst nicht wüßten, wohin sie fliehen sollten. Das ist für mich das Entscheidende. Israel, das Asyl für viele Menschen. Trotzdem:

Es scheint mir nicht leicht, es heute mit den Voraussagen des Alten Testaments zusammenzubringen.

 

SPIEGEL: Einerseits, so meinen Sie, ist der Staat Israel als Zuflucht für Millionen Juden notwendig, andererseits aber soll dieser Staat zur Realisierung einer jüdischen Utopie, nämlich Zion, führen, die zu beschreiben oder darzustellen kaum weniger problematisch ist wie das Bild des höchsten Wesens. Auch hier stellen sich schnell Parallelen zu Ihrer Kritischen Theorie her.

 

HORKHEIMER: Gewiß. Es ist wahr, daß gemäß der Kritischen Theorie das Gute schlechthin, das absolute Positive nicht darzustellen ist. Andererseits haben wir - ich meine Adorno und mich - stets erklärt, daß auf verschiedensten Gebieten das zu Verändernde, zu Verbessernde jeweils bezeichnet werden kann. Im übrigen habe ich oft betont, daß richtige Aktivität nicht bloß in der Veränderung, sondern auch in der Erhaltung gewisser kultureller Momente besteht, ja daß der wahre Konservative dem wahren Revolutionär verwandter sei als dem Faschisten, so wie der wahre Revolutionär dem wahren Konservativen verwandter ist als dem sogenannten Kommunisten heute.

 

SPIEGEL: Können Sie ein Beispiel für solche erhaltenswerten Momente nennen?

 

HORKHEIMER: Wir sprachen schon darüber, daß Theologie, wenn auch in anderer Form, erhaltenswert sei, daß der Liberalismus positive Kräfte hervorgebracht hat, die man bewahren sollte - auch in einer verwalteten Welt. Sehr viele kulturelle Momente wären zu nennen.

 

SPIEGEL: Warum glauben Sie eigentlich, daß diese Totalverwaltung des Menschen unumgehbar sei?

 

HORKHEIMER: Mit der Wissenschaft und Technik hat sich der Mensch die ungeheuren Kräfte der Natur unterworfen. Wenn diese Kräfte - zum Beispiel die Nuklear-Energien - nicht zerstörerisch wirken sollen, müssen sie von einer wirklich rationalen Zentralverwaltung in Obhut genommen werden. Die moderne Pharmazeutik hat - um ein anderes Beispiel zu nennen - durch die Pille menschliche Zeugungskraft manipulierbar gemacht. Werden wir nicht eines Tages eine Geburtenverwaltung brauchen?

 

SPIEGEL: Worin sehen Sie die Gefahr?

 

HORKHEIMER: Ganz gewiß nicht bloß eine Gefahr, sondern auch ein Nützliches und Notwendiges, das nicht verhindert werden soll. Ich fürchte jedoch, daß die Menschen, wenn einmal die verwaltete Welt existiert, ihre Kräfte nicht frei ent-falten werden, sondern sich so weit an rationalistische Regeln anpassen, daß sie den Regeln schließlich instinktiv ge-horchen. Die Menschen dieser zukünftigen Welt werden wahrscheinlich automatisch handeln: Bei rotem Licht stehen, bei Grün marschieren! Sie gehorchen den Zeichen!

 

SPIEGEL: Und wo bleibt der freie Wille?

 

HORKHEIMER: Vielleicht dort, wo er bei den Bienen und Ameisen und vielen anderen Wesen dieser Erde zu suchen ist.

 

SPIEGEL: In der verwalteten Welt wird es also keinen freien Willen geben?

 

HORKHEIMER: Eine verbindliche Antwort läßt sich darauf nicht geben. Ich meine nur, die immanente Logik der gegen-wärtigen historischen Entwicklung, soweit sie durch Katastrophen nicht unterbrochen wird, weise auf solche Aufhebung hin.

 

SPIEGEL: Sie sprachen vorhin von der Pille und haben vor einem Jahr, als Papst Paul damals in einer Enzyklika die Pille verbot, eine halbe Verteidigung Pauls versucht. Wie kamen Sie dazu? Im Ernst können Sie doch nicht annehmen, man könnte dieses Mittel der Geburtenregelung jemals wieder aus der Welt schaffen?

 

HORKHEIMER: Das war, wie Sie sich erinnern werden, auch nicht mein Gedanke. Ich glaubte, ein Beispiel für Kritische Theorie liefern zu sollen. Daher sagte ich mir: Nein, jetzt gilt es zu zeigen, was für diesen Fortschritt geopfert werden muß, die wahre Liebe. Natürlich habe ich damals nicht sagen können und kann es auch heute nicht sagen, was wir gegen solchen Verlust tun können. Aber ist es nicht schon etwas, wenn wir es ins Bewußtsein heben? Die Pille ermög-licht die Geburtenregelung. Gut. Aber daß sie in der Gesellschaft tiefe und bedenkliche Veränderungen bewirkt, muß ausgesprochen werden.

 

SPIEGEL: Welche Veränderungen?

 

HORKHEIMER: Die ganze Liebes-Literatur, mit ihrem zentralen Motiv der unerfüllten oder gar unerfüllbaren Sehnsucht nach dem anderen Menschen, ist heute museal, "Romeo und Julia" ein Museumsstück, das Fortgeschrittene eigentlich schon nichts mehr angeht!

 

SPIEGEL: Die verwaltete Welt, eine lieblose Welt?

 

HORKHEIMER: Wir müssen vermuten, daß die Pille auch die Familie, die ja nicht zuletzt auf sexueller Treue aufbaut, verändern wird, ja daß elementare ethische Strukturen unserer Gesellschaft in Frage gestellt werden.

 

SPIEGEL: In welcher Weise?

 

HORKHEIMER: Ein Beispiel: Freud lehrte, das Gewissen des Menschen entstehe durch die Autorität des Vaters. Indem Sohn und Tochter täglich vom Vater hören: "Seid fleißig! Sagt die Wahrheit! Tut das Rechte!" - geht die Forderung in ihre Psyche ein. Schließlich vernehmen sie des Vaters Stimme als ihre eigene. Während der Pubertät hält der Sohn dem Vater dann entgegen: "Sprichst denn du immer die Wahrheit? Tust du immer das Rechte?" Bis dann der Sohn versteht, daß man in dieser Welt nicht immer die Wahrheit sagen und nicht immer das tun kann, was man sollte. Das ist ein Moment der Reife. Nun aber ist heute die Autorität des Vaters erschüttert durch die vielen soziologischen, psycho-logischen und technischen Veränderungen, zu denen man. auch die Pille zählen kann. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Spielt das Gewissen, da die Autorität des Vaters nicht mehr dieselbe wie früher ist, eine andere Rolle? Oder kann es sich überhaupt nicht mehr herausbilden?

 

SPIEGEL: Und wenn es so wäre?

 

HORKHEIMER: Auf jeden Fall scheint doch klar, daß der Zusammenbruch des Vater-Mythos die Existenz des Gewissens als gesellschaftliches Phänomen in Frage stellt. Die Mutter, die einen Beruf ausübt, ist schon lange etwas anderes als die Mutter, deren Lebensaufgabe im wesentlichen die Erziehung der Kinder war.

 

SPIEGEL: Weil ein Teil ihrer Energie durch den Beruf absorbiert wird?

 

HORKHEIMER: Nicht nur das. Der Beruf verdinglicht ihre Gedanken, wie es beim Mann der Fall ist. Dazu kommt noch etwas anderes. Sie ist gleichberechtigt. Sie strahlt nicht mehr die Liebe aus wie vorher. Die Mutter war bisher diejenige, die ihre Natur im positiven Sinn bewahrte, durch ihre Sprache und ihre Gebärden. Ihre bewußten und unbewußten Reaktionen spielten eine wichtige Rolle in der Erziehung. Sie prägten das Kind vielleicht entscheidender als die Weisungen.

 

SPIEGEL: Wollen Sie das alles zurückholen?

 

HORKHEIMER: Natürlich kann man solche Prozesse nicht rückgängig machen. Man kann aber versuchen, etwas von dem Überlieferten zu bewahren, indem man die Wandlung auch in ihrer Negativität sichtbar macht. Das ist eine wichtige Aufgabe Kritischer Theorie.

 

SPIEGEL: Welchen Nutzen aber soll man aus der Einsicht ziehen, daß wesentliche Elemente der bisherigen Erziehung, zum Beispiel die mütterliche Art des Ausdrucks, in Zukunft ihre Funktion verlieren?

 

HORKHEIMER: Ein gewisser Nutzen könnte vielleicht schon daraus resultieren, daß der eingetretene Erziehungsverlust durch Neugestaltung der Schulen wenigstens teilweise wettgemacht wird. Man muß den jungen Menschen mehr als bloß Wissen vermitteln.

 

SPIEGEL: Sie meinen etwas, was ihm einen Ausweg aus der verwalteten Welt öffnet?

 

HORKHEIMER: So könnte man es sagen.

 

SPIEGEL: Viele suchen heute schon einen solchen Ausweg im pharmazeutisch produzierten Traum.

 

HORKHEIMER: Die Totalverwaltung der Welt wird Rauschmittel, soweit sie der Gesundheit schädlich werden können, abschaffen. Vielleicht wird sie ungefährliche Mittel einführen, denn die Welt wird ja langweilig sein, und auch die Langeweile muß ja abgeschafft werden.

 

SPIEGEL: Warum soll die Zukunft langweilig sein?

 

HORKHEIMER: Man wird das Theologische abschaffen. Damit verschwindet das, was wir "Sinn" nennen, aus der Welt. Zwar wird Geschäftigkeit herrschen, aber eigentlich sinnlose. Eines Tages wird man auch Philosophie als eine Kinder-angelegenheit der Menschheit betrachten. Man wird mit dem Positivismus sagen, es sei läppisch, über die Beziehungen von Relativem und Transzendentem zu spekulieren.

 

SPIEGEL: Es könnte doch aber auch sein, daß sich die Menschen - wenn ihre materiellen Bedürfnisse einschließlich der sexuellen völlig befriedigt sind - den Spielen zuwenden.

 

HORKHEIMER: Die haben ja auch die Tiere. Ich kann mir gut vorstellen, daß sich das bei den Menschen fortsetzt.

 

SPIEGEL: Herr Professor Horkheimer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

DER SPIEGEL 1/1970

 

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