Sahra Wagenknecht ist wie Alice Weidel eine Politikerin mit Charisma. Beide spalten die Gemüter. Während die Einen von ihnen begeistert sind und unkritisch an ihren Lippen hängen, weil sie endlich, klar und deutlich, freimütig und rhetorisch brillant aussprechen, wo die wichtigsten politischen Probleme liegen und wer sie verursacht hat, empören sich die Anderen über ihre Chuzpe und beneiden sie um ihr rhetorische Begabung. Die Linken sprechen offensichtlich bedroht, verärgert und verängstigt von Personenkult.
Beide sind das glatte Gegenteil von Angela Merkel, die wie Helmut Kohl die meisten Probleme nur aussitzen wollte und fast nur ihrem ausgeprägten machtpolitischen Instinkt folgte, aber ansonsten keine Vorstellung davon hatte, wohin sie das Land steuern und für die Zukunft fit machen wollte. Wenn sie eine folgenreiche Entscheidung treffen musste, dann oft erst, wenn sie von den Umständen eingeholt wurde, wie bei ihrer Kehrtwende zum Atomausstieg nach Fukushima oder bei ihrer Entscheidung zur unkontrollierten Einwanderung von Flüchtlingen 2015.
Angela Merkels rechtfertigende Floskel, dass eine Entscheidung angeblich "alternativlos" sei, die angeblich von Margaret Thatcher stammen soll, entsprach ihrem allzu nüchternen Stil einer zwar analytisch begabten Physikerin, die in der grauen und trostlosen DDR groß geworden war. Sie konnte oder wollte jedoch weder weit in die Zukunft blicken noch war sie gerade entscheidungsfreudig oder voller Tatendrang. Sie war jemand, der die Umstände ähnlich wie Helmut Kohl eher stoisch betrachtete und lange überdachte, bevor sie endlich unter Zugzwang zupackte.
Aber anders als Helmut Kohl, der den historischen Kairos, die günstige Gelegenheit zur Deutschen Wiedervereinigung schnell erkannt und tatkräftig genutzt hatte, haben sich fast alle größeren Entscheidungen von Angela Merkel schon bald als größere Fehler mit bedrohlichen Folgen für das ganze Land herausgestellt. Angela Merkel ist mittlerweile fast schon zu einer tragischen Figur der deutschen Politik geworden. Die Bilanz der Historiker ihrer allzu langen Amtszeit könnte verheerend ausfallen. Wie verheerend ist immer noch offen und entscheidet sich in den nächsten Jahren.
Ob die beiden charismatischen Politikerinnen Sahra Wagenknecht und Alice Weidel auch das Zeug zum Regieren haben, ist völlig offen. Rhetorisch glänzend die schwache und glücklose Politik der Ampelkoalition zu kritisieren ist eine Sache, geschickt zu regieren hingegen eine ganz andere Sache. Kritik und Opposition sind sicher leichter, als es unter diesen schwierigen Umständen besser machen: Klimakrise, Wirtschaftskrise, Verkehrswende, Autoritarismus, Extremismus und Populismus, Uneinigkeit in der EU, Krieg Russlands gegen die Ukraine, Terror der Hamas gegen Israel, ökonomische und politische Rivalität zwischen China und USA, etc. Die List der allzu vielen Probleme ist schrecklich lang geworden.
Meine Vision für Deutschland
Sahra Wagenknecht will es wirklich tun: Nach übereinstimmenden Berichten will die populäre Linken-
politikerin in der nächsten Woche offiziell ihr „Bündnis Sahra Wagenknecht“ als Partei aus der Taufe heben.
In der Schweizer „Weltwoche“ hat sie jüngst ihr Programm für Deutschland skizziert, das wir dokumentieren.
Hier ist ihr Entwurf für „Made in Germany 2030“.
Sahra Wagenknecht - The European - 19.10.2023
Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einem Geschäftsmann aus Südkorea, der sich zum ersten Mal in Deutschland auf-hielt und verunsichert wirkte. Er erzählte, dass Deutschland in seiner Heimat als Vorbild für Tugenden wie Pünkt-lichkeit, Ordnung und Akkuratesse, für einen solide funktionierenden Staat und gute Ingenieursarbeit gelte. Seine erste prägende Erfahrung hierzulande: eine Fahrt mit der Deutschen Bahn, bei der der Zug sein Ziel mit zwei Stunden Verspätung erreichte. Es gab auch nichts zu essen, weil das Bordbistro außer Schokoriegeln keine Speisen im Angebot hatte. Bei der zweiten Fahrt nimmt er den Mietwagen: großer Umweg und langer Stau, weil eine unsanierte Brücke gesperrt werden musste. Schließlich in der Hauptstadt: Verkehrschaos, weil die Klimakleber unterwegs sind.
Man kann von Glück sagen, dass der Mann bei seinem Aufenthalt keinen Anlass hatte, eine Schule in einer ärmeren Wohngegend zu besuchen, sich um einen Kita-Platz zu bemühen, einen Termin bei einem Bürgeramt in Berlin zu erfragen oder als Kassenpatient zur Abklärung einer potenziell gefährlichen Diagnose auf einen Facharzttermin zu warten. Dann wäre sein Deutschland-Bild sicher endgültig zusammengebrochen.
Dauernotstand der Ampelkoalition
Der einzige Punkt in seiner Aufzählung, der noch halbwegs stimmt, ist die gute Ingenieursarbeit in Tausenden Industriebetrieben, vielfach Mittelständler, die das Rückgrat unserer Wirtschaft und den Grundpfeiler unseres Wohlstands bilden. Noch. Denn nachdem die Regierungen der letzten zwanzig Jahre die Infrastruktur verlottern
ließen, die Verwaltungen im Ergebnis mangelnder technischer und personeller Ausstattung teilweise funktions-
unfähig gemacht haben und existenzielle öffentlichen Dienste – Bildung, Gesundheit, Pflege – durch finanzielles Aushungern und verfehlte Anreize in einen Dauernotstand versetzt haben, geht es unter der Ampelkoalition jetzt
auch noch unserer Industrie an den Kragen. Wenn wir nicht schnell zur Besinnung kommen, dürften die Tage, in
denen Deutschland zu den führenden Industrienationen der Welt gehörte, bald gezählt sein.
Die aktuellen Wirtschaftsdaten sind so schlecht, dass es selbst einem grünen Wirtschaftsminister und seinem Klüngel-apparat auffallen müsste. Im Schlussquartal 2022 ist die deutsche Wirtschaft um 0,5 Prozent geschrumpft. 2023 wird
es im besten Fall Nullwachstum geben, der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet ein Minus. Mit diesen Werten ist Deutschland Schlusslicht in Europa und wird es bis auf weiteres wohl bleiben.
Nur in einem sind wir Spitze: der Inflation. Die Preissteigerungen liegen seit Monaten um die 7 Prozent, und es wären noch deutlich mehr, wenn man vor kurzem nicht mal eben die Definition des zugrundeliegenden Warenkorbs verändert hätte. Lebensmittel verteuerten sich binnen Jahresfrist um 22 Prozent, für Energie müssen Familien heute 40 Prozent mehr berappen.
Niedergang der Wohlstandsstütze
Natürlich wäre es noch keine Tragödie, wenn eine starke Wirtschaft mal ein paar Quartale stagnierte. Auch eine kurzfristige Preisinflation wäre verschmerzbar, wenn alles schnell wieder ins Lot käme. Nur: Was wir zurzeit erleben,
ist kein normaler konjunktureller Abschwung. Der Index, der die Produktion im verarbeitenden Gewerbe in Deutsch-
land misst, sinkt mit Schwankungen seit 2018. Der Rückgang ist mit insgesamt 9 Prozent in fünf Jahren beachtlich –
und er beschleunigt sich. Besonders eindrucksvoll lässt sich das am Index der energieintensiven Produktionszweige ablesen, der in den vergangenen fünf Jahren um fast 16 Prozent eingebrochen ist, über 80 Prozent davon allein im letzten Jahr.
Das bedeutet, hinter dem Abschwung verbirgt sich der Niedergang unserer wichtigsten Wohlstandsstütze: der deutschen Industrie. Und wer glaubt, industrielle Arbeitsplätze ließen sich ohne großen Schaden durch solche in
den Dienstleistungsbranchen ersetzen, sollte gelegentlich Nordengland, den amerikanischen Rust Belt oder die
de-industrialisierten Regionen Italiens besuchen. Ein Land, in dem grundsolide Werkzeugbauer aufgeben müssen
undsich windige Fintechs oder Geschäftsideen wie die der „Gorillas»“ breitmachen, deren erbärmlich bezahlte Beschäftigte der urbanen Mittelschicht die Lebensmittel an die Haustür schleppen, ist schwerlich in einer guten Verfassung.
Dabei hatte Deutschland die Globalisierung zunächst besser gemeistert als viele andere westliche Länder, weil es uns gelungen war, die industrielle Wertschöpfung im Land zu halten. Natürlich hat es auch hier Strukturumbrüche gegeben. Arbeitsintensive Branchen wie die Textilindustrie sind weitgehend verschwunden, ebenso die Bergwerke, Hütten und große Teile der alten Schwerindustrie. Aber was unsere Wirtschaft trägt und gutbezahlte Arbeitsplätze schafft, sind neben einigen großen Industriekonzernen vor allem mittelständische Qualitätshersteller, Autozulieferer, Maschinen-
und Anlagenbauer, die durch ausgefeilte technologische Spitzenprodukte ihre Stellung am globalen Markt behaupten und ausbauen konnten. Dieses Modell lebte allerdings von bestimmten Voraussetzungen, und in dem Maße, in dem
die Politik diese zerstört, funktioniert es nicht mehr.
Zu diesen Voraussetzungen gehören ein Bildungssystem, das die benötigten Facharbeiter und Ingenieure auch hervorbringen kann, außerdem effiziente öffentliche Verwaltungen und eine gute Infrastruktur, von intakten Straßen, Brücken und Bahnstrecken bis zu schnellen digitalen Netzen. Und zu diesen Voraussetzungen gehört für ein export-starkes und rohstoffarmes Land zwingend eine Außenwirtschaftspolitik, die auf faire, stabile Handelsbeziehungen mit möglichst vielen Partnern statt auf ausufernde Sanktionen und überhebliche Belehrungen setzt und die die Versorgung mit Rohstoffen und preiswerter Energie sicherstellt. Schon aus schlicht geografischen Gründen spielte Russland in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle, ebenso wie aufgrund seiner Größe und Wirtschaftskraft mittlerweile China.
Alle genannten Voraussetzungen sind abhandengekommen. Die Konsequenzen erleben wir. Fast jedes fünfte Unter-nehmen will heute energieintensive Geschäftsfelder in Deutschland aufgeben. Der Chemieriese BASF wird 10 Mrd.
Euro in einen neuen Verbundstandort in China investieren und seine Kunststoffproduktion im Süden der USA ausbauen, während im Inland Tausende Jobs gestrichen werden. Audi meldet, seine E-Wagen künftig in den USA fertigen zu lassen, von anderen Autoherstellern hört man Ähnliches. Und ausländische Firmen verschieben oder stoppen geplante Investitionen, weil der deutsche Standort zu unattraktiv geworden ist.
Verlagerungen sind zwar ein seit längerem zu beobachtender Trend. Seit 2012 ist etwa die Auslandsproduktion von Volkswagen, BMW, Opel und Mercedes-Benz von 8,6 auf über 10 Millionen Fahrzeuge gewachsen, während die Pro-duktion in Deutschland um mehr als ein Drittel zurückgegangen ist. Aber solche Verschiebungen waren so lange für die deutsche Volkswirtschaft kein großes Problem, solange wichtige Zulieferteile aus Deutschland bezogen und durch die Erschließung größerer Märkte auch der Export und damit die heimische Produktion angekurbelt wurden. Doch auf-grund der veränderten politischen Rahmenbedingungen bemühen sich die Konzerne neuerdings, ihre Lieferketten in immer größerem Umfang vor Ort abzusichern. Dazu werden sie durch politische Vorgaben (China) oder finanzielle Anreize (USA) motiviert und durch immer großflächigere Sanktionen und Decoupling-Debatten bestärkt. Zusätzlich verliert der heimische industrielle Mittelstand durch teure Energie, unsichere Rohstoffversorgung und Fachkräfte-probleme massiv an Wettbewerbsfähigkeit. Wer nicht groß genug ist, um ins Ausland zu expandieren, muss in vielen Fällen um sein Überleben fürchten.
Chinas Ehrgeiz, Amerikas Härte
Was könnte eine vernünftige Bundesregierung gegen diesen Giftcocktail tun, der dem deutschen Wohlstandsmodell den Todesstoss zu versetzen droht? Zunächst einmal, natürlich, sich um einen effizienten Staat mit guter Bildung und Infrastruktur im Inneren kümmern. Ein Land, in dem immer weniger wirklich funktioniert, befindet sich ganz sicher auf dem absteigenden Ast. Bleibt das Problem, dass viele der weltpolitischen Veränderungen nicht von uns abhängen. Dass Joe Biden 1,2 Billionen Dollar einsetzt und ungeniert Handelsbarrieren errichtet, um die amerikanische Ökonomie zu reindustrialisieren und ihre Position gegenüber dem großen Rivalen China zu verbessern, liegt außerhalb der Ver-antwortung der Bundesregierung. Auch, dass die chinesische Führung mit dem Programm „Made in China 2025“ und der „Neuen Seidenstraße“ über eine gutdurchdachte, äußerst ehrgeizige und bisher erstaunlich erfolgreiche Strategie verfügt, das eigene Land zum Technologieführer auf Schlüsselmärkten und zur neuen ökonomischen Weltmacht zu machen, die im Zweifel unabhängig von Lieferungen aus westlichen Ländern wird. Und auch der Ukraine-Krieg könnte zwar jederzeit von Washington, aber mitnichten allein von Berlin beendet werden.
Insofern stimmt: Der mit immer härteren Bandagen ausgetragene Großkonflikt zwischen den Vereinigten Staaten auf der einen Seite und Russland und China auf der anderen hat die geopolitische Lage verändert. Aber wer um alles in der Welt zwingt uns, uns in diesem Konflikt als höriger Untertan an der Seite Washingtons zu positionieren? Vor allem die vorherrschende Erzählung, dass hier angeblich das Gute gegen das Böse, der freie, demokratische Westen gegen den unfreien, autokratischen Osten kämpfe, dass es um Werte gehe, statt um Interessen, um Moral statt um pekuniäre Vorteile. Besonders eifrig wird uns dieses Märchen von unserer grünen Außenministerin aufgetischt.
Brandbeschleuniger Russland
In Wahrheit kämpft in diesem Konflikt die Weltmacht USA gegen ihren Abstieg und gegen das Ende der amerikanischen Vorherrschaft in der Welt. Und zwar nicht aus hehren moralischen Gründen, sondern weil diese Vorherrschaft amerika-nischen Unternehmen und dem amerikanischen Staat viele handfeste Vorteile brachte: vom Zugang zu Rohstoffen und Märkten über die globale Sicherung von Eigentumsrechten bis hin zu der Macht, unbotmäßige Regime überall auf der Welt durch Sanktionen zu erpressen. Nicht zu vergessen die Möglichkeit für den amerikanischen Staat, sich nahezu unbegrenzt im Ausland verschulden zu können, weil alle Länder Dollarreserven horten wollten beziehungsweise muss-ten. Diese heile Welt des US-Imperiums ist Vergangenheit, und zur Ironie der Geschichte gehört, dass der Ukraine-Krieg, der eigentlich als Stellvertreterkrieg zur Schwächung Russlands gedacht war, bei diesem Prozess als Brandbeschleuniger gewirkt hat.
Europa und ganz besonders Deutschland haben keinen Grund, der Pax Americana nachzutrauern. Ob es um Kriege oder um wirtschaftliche Fragen geht: Die US-Führung hat sich im Zweifel immer für das amerikanische und nicht für das gemeinsame Interesse entschieden. Der aktuelle Wirtschaftskrieg gegen Russland schadet uns erkennbar mehr als dem eigentlichen Adressaten, weil er die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen untergräbt. Wer die Tiraden Donald Trumps gegen die deutschen Exportüberschüsse noch im Ohr hat, ahnt, dass das kein ungewollter Nebeneffekt ist. Und der Schaden wird um vieles grösser, wenn wir uns jetzt auch noch in den Konflikt mit China hineinziehen lassen.
Macron hat’s verstanden, Scholz nicht
Erste und wichtigste Aufgabe der Außenpolitik einer vernünftigen Bundesregierung wäre daher, statt einer frag-würdigen Moral nachzulaufen, die sich bei näherem Hinsehen als amerikanische Interessenpolitik entpuppt, unsere eigenen sicherheitspolitischen und ökonomischen Interessen in den Mittelpunkt zu rücken. Wichtigstes Interesse sind Frieden und Stabilität in Europa und die Rückkehr zu beiderseitig vorteilhaften Handelsbeziehungen zu unserem großen Nachbarn im Osten. Daß wir darauf achten sollten, uns von keinem Land völlig abhängig zu machen, versteht sich. Gleiches sollte auch unsere Maxime im Handel mit China sein. Will heißen: kein blauäugiger Freihandel, wo er zur Zerstörung wichtiger heimischer Kapazitäten führt wie einst in der Solarindustrie. Achtsamkeit, wo es bei Übernahmen nur um den Zugriff auf heimische Spitzentechnologie geht. Aber keine blinden Blockaden, mit denen wir einen zentralen Exportmarkt zerstören und uns selbst von elementaren Rohstoffen und Vorleistungen abschneiden würden.
Im europäischen und deutschen Interesse ist eine multipolare Welt anstelle der Entstehung einer bipolaren, in der uns der ungemütliche Platz eines unselbständigen Vasallen zugedacht wäre, der im Zweifel für amerikanische Interessen
die eigenen opfert und im schlimmsten Fall dafür sogar in Kriege zieht. Emmanuel Macron scheint das verstanden zu haben, Olaf Scholz leider nicht. Wir brauchen eine eigenständige europäische Außenpolitik und eine europäische Wirtschaftsstrategie, mit der wir uns für die Zukunft aufstellen und in Schlüsselbereichen – etwa Finanzen oder Digitales – endlich souverän werden. Wieso gibt es eigentlich kein durchdachtes, ehrgeiziges Programm „Made in Germany 2030“?
Sahra Wagenknecht
Dieser Text erschien erstmals in der Schweizer Weltwoche am 10. Mai 2023. Das Magazin hat ihn jetzt erneut veröffentlicht unter
Ein unehrliches Projekt
Die Glaubwürdigkeit der Sahra-Wagenknecht Partei ist schwer erschüttert, bevor es sie überhaupt gibt. Es wäre ehrlicher gewesen, mit einer neuen Partei von außen zu starten. Legten die zehn Gründungsmitglieder, die von Der Linken kommen, ihr Mandat in der alten Partei nieder, zögen zehn andere Linke ein, die Fraktion bliebe bestehen. Wenn man aber mit einem derart unmoralischen „Diebstahl“ beginnt, steht ein solches Projekt von Anfang an unter keinem guten Stern.
Gregor Gysi (Die Linke) am 25.10.2023 in The European
Sahra Wagenknecht hat ihren lang angekündigten Schritt nun wahrgemacht und gemeinsam mit neun weiteren Bundestagsabgeordneten Die Linke verlassen, um eine neue Partei zu gründen. Politisch hat sie der Linken alles zu verdanken. Die Parteimitglieder haben für sie Wahlkampf gemacht, die Partei hat die Wahlkämpfe finanziert und es ihr so ermöglicht, Europa- und Bundestagsabgeordnete zu werden. Die Bundestagsfraktion wählte sie 2015 neben Dietmar Bartsch zur Fraktionsvorsitzenden. All dies hinderte sie nicht daran, beginnend mit dem damaligen Projekt „Aufstehen“ seit 2018 gegen Die Linke zu arbeiten. 2021 ließ sie in ihrem vor der Wahl erschienenen Buch kein gutes Haar an der Partei, für die sie kandidierte, und rief gemeinsam mit ihrem Ehemann dazu auf, im Saarland Die Linke bei der Bundestagswahl nicht zu wählen. Bekanntlich blieb Die Linke unter 5 Prozent.
Dennoch ist es für uns wichtig, die Fehler zuerst bei uns selbst zu suchen. Vor dem Hintergrund der Veränderung in der Mitgliederstruktur, die zu einer deutlichen Verjüngung und einem größeren Anteil an Mitgliedern im Westen führte, wurde in den innerparteilichen Diskussions- und Entscheidungsprozessen zu wenig Austausch zwischen Alt und Jung und zwischen Ost und West organisiert. Eine plurale Partei verträgt keine Dominanz einzelner Flügel.
Nicht so sehr programmatisch-inhaltlich, aber desto mehr in der Kommunikation nach außen verschob sich der Fokus der Interessenvertretung durch Die Linke in Richtung der Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld, Bürgergeld und Geflüchtete. Selbstverständlich ist Die Linke die erste Adresse in der Unterstützung sozial Benachtei-ligter, aber dennoch muss dafür gesorgt werden, dass die Interessen der lohnabhängig Beschäftigten, der Angestellten, der freiberuflich Tätigen und Solo-Selbständigen im Vordergrund stehen. Die Linke muss vor allem Arbeiterpartei bleiben und wieder werden.
Die Erfolgsgeschichte der Linken nach der Vereinigung der PDS mit der WASG hatte eine Schattenseite: Schritt für Schritt wurde der Osten nicht mehr als besondere Herausforderung und Aufgabe empfunden, so dass letztlich die wichtigste Basis dafür, dass es im vereinten Deutschland überhaupt eine demokratisch akzeptierte Partei links von der Sozialdemo-kratie gibt, vernachlässigt wurde. Dieser Fehler hat sich über Jahre potenziert, obwohl inzwischen mit der Korrektur begonnen wurde, was aber nicht von heute auf morgen Wirkung zeigt. Die nach wie vor große Bedeutung des Ostens für Die Linke wird auch daran deutlich, dass alle Abgeordneten, die nun aus der Partei ausgetreten sind, aus dem Westen kommen. Sahra Wagenknecht ist die Einzige, die im Osten geboren wurde, aber ihre politische Heimat längst im Westen gefunden hat.
Diese und andere Entwicklungen in der Linken sind aber kein Grund, die Partei zu verlassen. Wenn man mit der Partei-führung, ihren Beschlüssen und Beschlüssen eines Parteitages unzufrieden ist, muss man sich in der Partei selbst mühen, Veränderungen zu erreichen und nicht austreten und eine neue Partei gründen. Es ist mühsam, die Partei zu bereisen, aber es wäre der einzig richtige und vernünftige Weg gewesen. Dies umso mehr, da die zehn MdB aus-schließlich drei Personen zu verdanken haben, in den Bundestag eingezogen zu sein. Hätten Gesine Lötzsch, Sören Pellmann und ich nicht die Direktmandate gewonnen, säße kein anderer Abgeordneter der Linken im Bundestag.
Wenn das so ist, darf man die drei nicht im Stich lassen und einfach die Mandate für eine neue Partei mitnehmen. Die Behauptung, man sei dazu berechtigt, weil Die Linke 2021 auch wegen Sahra Wagenknecht gewählt worden sei, soll lediglich kaschieren, worum es eigentlich geht: Monat für Monat erhalten diese zehn Abgeordneten 250.000 Euro an Steuermitteln, um mit genügend Personal den Aufbau der neuen Partei vorantreiben zu können. Und hinzu kommt, dass keine und keiner von ihnen auf die monatlichen 15.000 Euro an Diäten und steuerfreier Aufwandspauschale verzichten will.
Im Übrigen darf man Sahra Wagenknechts Behauptung über ihren Beitrag zum Ergebnis der letzten Bundestagswahl 2021 auch mehr als anzweifeln. Die Verluste der Linken bei ihren Stimmenanteilen in NRW, wo sie Spitzenkandidatin war, fielen höher aus als im Bundesdurchschnitt, als im Osten und auch als in Hessen und weiteren westlichen Bundes-ländern.
Natürlich darf man sich trotzdem entscheiden, eine neue Partei zu gründen. Ob eine Partei, die eine Flüchtlingspolitik wie die AfD, eine Wirtschaftspolitik wie Ludwig Erhard und eine Sozialpolitik ähnlich der Linken machen will, am Ende erfolgreich sein wird, ist mehr als offen. Die Hoffnung auf eine Addition von Wahlstimmen mit diesen verschiedenen, zum Teil gegensätzlichen Positionen, mag am Anfang vielleicht aufgehen, aber schon 2025 bei der Bundestagswahl kann das Ganze in einer Subtraktion der Stimmen enden.
Die Glaubwürdigkeit der neuen Partei ist schon schwer erschüttert, bevor es sie überhaupt gibt. Es wäre ehrlich ge-wesen, mit einer neuen Partei von außen zu starten. Legten die Zehn ihr Mandat nieder, zögen zehn andere Linke ein, die Fraktion bliebe bestehen und müsste aus diesem Grund keine Fraktionsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter entlassen. Wenn man aber mit einem derart unmoralischen „Diebstahl“ beginnt, steht ein solches Projekt von Anfang an unter keinem guten Stern. Wer behauptet, mit seiner neuen Partei mehr als Die Linke für Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer tun zu wollen und als Erstes auch aus eigenem Geldstreben dafür sorgt, dass Menschen in der Fraktion, die
zur Linken stehen, ihretwegen den Job verlieren, ist schlicht unehrlich.
Ehrlich währt am längsten, sagt der Volksmund. Er wird auch diesmal recht behalten.
Gregor Gysi
2005 wurde Dr. Gregor Gysi wieder Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 2005 bis 2015 war er Fraktionsvorsitzen-der der Linksfraktion. Während des dritten Kabinetts Merkel war er von Dezember 2013 bis Oktober 2015 zusätzlich Oppositionsführer in der Legislaturperiode des 18. Bundestags. Nach diesem Amt war er von 2016 bis 2019 Präsident der Europäischen Linken. 2020 wurde er zum außenpolitischen Sprecher der Linksfraktion ernannt.
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