Berlin - Failing City

 

 

Berlin wählt: Die große Lust am Untergang

 

Claudius Seidl am 11. 02.2023 in der FAZ

 

Es geschehen Dinge im öffentlichen Raum von Berlin, die treiben auch besonnene Bewohner dieser Stadt dazu, alle Hoffnung endlich fahren zu lassen. Wenn man sich die Szenen der Silvesternacht noch einmal vor Augen führt oder sich daran erinnert, dass hier, ohne besonderen Anlass, jedes Jahr mehr als sechshundert Autos niederbrennen; wenn man mal wieder beobachten darf, wie fast jeder Lieferwagen so abgestellt wird, dass der Stillstand aller anderen Verkehrsteilnehmer vollkommen ist; oder wenn ein Autofahrer, genervt von der nächsten Blockade der sogenannten letzten Generation, einem Aktivisten einfach über den Fuß fährt: Dann ist man manchmal versucht zu fragen, ob gegen diesen permanenten Bürgerkrieg womöglich Blauhelme helfen könnten. Ein Besatzungsregime für die gefallene Stadt – und dann Nation Building, Reeducation?

 

Dass solche Phantasien nicht unbedingt dem Ressentiment entspringen, sondern, im Gegenteil, einer großen Liebe zu Berlin, das hat vor Kurzem Nikolaus Blome geschrieben, Online-Kolumnist beim „Spiegel“, der angesichts der Herrschaft des Absurden in Berlin nur noch fordern mag: „Entmündigt diese Stadt!“ Danach, so geht sein Vorschlag, übernimmt ein Bundeskommissar, eine private Firma, all das sei besser als die Berliner Politik.

 

Berlin muss bayerisch werden

 

Und mancher wird sich in diesen Tagen an Friedrich Dieckmann erinnern, den Berliner Schriftsteller, der vor 22 Jahren in der F.A.Z. den Vorschlag machte, Berlin solle sich nicht etwa mit Brandenburg vereinigen (woraus dann ja auch nichts wurde), sondern mit Bayern. Nur so, mit bayerischem Geld und bayerischer Verwaltung, könne verhindert werden, dass die Hauptstadt, die als Stadtstaat keine Tradition und keine Kompetenz habe, in die „Existenzunfähigkeit absinke“. Immerhin ist Bayern den Preußen noch etwas schuldig: seine Existenz, zumindest seine Unabhängigkeit, die vor 238 Jahren fast verloren gegangen wäre, als der Kurfürst sein Land den Habsburgern überlassen wollte, wenn er dafür nur König von Burgund geworden wäre. Es war, ausgerechnet, der Preußenkönig Friedrich II., der Bayern rettete mit seinem Einspruch. Weshalb sich die Bayern bei der Rettung Berlins gern mehr engagieren dürften.

 

Dass Berlin nicht bloß eine Regierung, sondern Rettung brauche, scheint überhaupt keine Frage zu sein. „Wer rettet Berlin?“, so hieß, als stünde der Untergang unmittelbar bevor, der Titel einer Diskussion mit den Spitzenkandidaten, am vorvergangenen Freitag in einem Café in Berlin-Mitte, bei welcher die Vertreterinnen der regierenden Parteien, Franzis-ka Giffey von der SPD, Bettina Jarasch von den Grünen und Anne Helm von den Linken, sich vom Gastgeber Sascha Lobo solche Fragen gefallen lassen mussten: Warum ist Berlin so kaputt? Wie kommt es, dass Termine im Bürgeramt bei Ebay ersteigert werden. Und wie kommen die, die Berlin regieren und mitverantwortlich für diese Kaputtheit sind, auf die Idee, dass sie jetzt die Rettung sein könnten.

 

Franziska Giffey und Bettina Jarasch grinsten ein wenig verlegen, gaben zu, dass „manches im Argen“ liege, bestanden dann aber darauf, dass nicht alles schlecht sei in Berlin, dieser Stadt der Start-ups, der blühenden Kultur, all der Men-schen, die hier unbedingt wohnen wollten. Worauf Lobo erwiderte, dass das nicht wegen, sondern trotz der Politik so sei. Und Kai Wegner von der CDU und Sebastian Czaja von der FDP, die in solchen Momenten all ihren revolutionären Elan hätten entfesseln und ihren unbedingten Willen zur Disruption artikulieren können, blieben halbmatt in ihren Sesseln hocken und hatten nicht die Kraft und nicht die Phantasie, dem herrschenden Elend, den bestehenden Verhäl-tnissen einen unversöhnlichen Kampf anzusagen. Die Verwaltung reformieren wollen sie alle, den Verkehr besser regeln auch. Und natürlich soll Berlin dabei unbedingt Berlin bleiben.

 

Das Chaos ist Weltspitze

 

Also bleibt es beim immer wieder unmittelbar bevorstehenden Untergang – der den Vorteil hat, dass man ihn immer wieder drastisch beschwören und beschreiben kann. Den einen, eher konservativen Kommentatoren ist das Chaos der beste Beleg dafür, dass das hegemoniale linksalternative Milieu, verwirrt von Genderkonzepten, Rauschgiftlegalisierung und Verstaatlichungsplänen, einfach nicht in der Lage sei, anständig zu wirtschaften und zu regieren. Wobei jeder Blick auf den Stadtplan zeigt, dass dort, wo die umschwärmten Start-ups das Bruttoinlandsprodukt steigern, die Grünen die meisten Stimmen holen.

 

Alle anderen scheint eine starke Lust am Desaster anzutreiben, fast schon ein Stolz aufs Chaos als Alleinstellungs-merkmal. 33 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die letzten Altbauviertel frisch gestrichen, saniert und gentrifiziert, die letzten Fabrikhallen in Lofts und Co-Working-Spaces umgewandelt und die Lautstärkeregler in den Clubs auf sozial-verträgliche Dezibelzahlen heruntergedreht. Vom Zauber der großen, hässlichen Stadt, in der so lange so vieles möglich war, bleibt die Verwahrlosung, die in manchen Vierteln neapolitanische Dimensionen erreicht. Und wenn einer, der für seine Wohnung eine Miete wie in München oder Paris zahlen muss, sich ärgert dar­über, dass er vor der Haustür aber nur Berliner Dreck und Durcheinander findet, dann muss er sich eben damit trösten, dass in dieser Kategorie die Stadt immerhin Weltspitze ist.

 

Hundehaufen sind politisch

 

Als am Dienstagabend, bei der Fernsehdiskussion der Spitzenkandidaten, ein Mann aus dem Volk die Frage stellte, was denn welche Partei gegen die Vermüllung von Straßen, Plätzen, Parks unternehmen wolle, kam es zu einem bestürzen-den Moment der Ehrlichkeit. Alle, von der Linkspartei bis zur AfD, gaben die gleiche Antwort: dass es über die Berliner Müllabfuhr nichts zu meckern gebe. Und dass man stattdessen an die Eigenverantwortung der Bürger appellieren müsse. Die Kandidaten hätten es den Berlinern auch so sagen dürfen: Macht euren Dreck doch selber weg, ihr Ferkel, statt dauernd nach der Politik zu rufen und jeden Hundehaufen als Symptom des Staatsversagens zu deuten.

 

Vor der Konsequenz aus dieser Wahrheit schrecken sie aber alle zurück. In New York und in anderen amerikanischen Städten hat man seit den Achtzigern, statt die tieferen psychosozialen Ursachen der Verwahrlosung lange zu erforschen, diese Verwahrlosung einfach bekämpft: Jede zerbrochene Scheibe wurde ersetzt, jede Schmiererei entfernt, jeder Müll-haufen abtransportiert, jede dunkle Ecke ausgeleuchtet – weil, wenn der Schmutz erst liegen bleibt, auch bei ordent-lichen Leuten alle Hemmungen fallen. Zur deutschen Mentalität, die, bevor sie ein Übel bekämpft, erst dessen Wurzel ausgräbt und genau analysiert, passt das nicht. Zur Berliner Mentalität erst recht nicht: strenge Regeln und jemand, der auf ihre Einhaltung besteht – das wäre nicht mehr Berlin. Denn darauf können sich, nur zum Beispiel, die Porschefahrer aus Zehlendorf und die Terrorradler aus Kreuzberg jederzeit einigen: dass strikte Gebote und Verbote, ja schon die Bitte, auf andere, womöglich auf Schwächere, mehr Rücksicht zu nehmen, nur als unzulässige Einschränkung der persönli-chen Freiheit zu werten sind.

 

Die Erziehungsberechtigte

 

Franziska Giffey hat, in ihrer bislang kurzen Regierungszeit, versucht, dieser Regellosigkeit eine Strenge im Auftreten entgegenzusetzen. Mit ihrer Steckfrisur, ihren Kostümen, den immer perfekten Rocklängen wirkt sie wie der personi-fizierte Widerspruch zur Berliner Schlampigkeit. Und zugleich wie die Erziehungsberechtigte der ganzen Stadt: Sie war kaum gewählt, da empfahl sie in einer Talkshow den Berlinern, sich anständiger anzuziehen und sich besser zu beneh-men. Selbst die Berufung der Säulchen-und-Erker-Architektin Petra Kahlfeld zur Senatsbaudirektorin ist in diesem Zu-sammenhang verständlich. Ändern an den Verhältnissen wird das aber alles nichts, das ist das Wesen von Berlin. Es schärft allerdings das Profil von Franziska Giffey, schafft eine unverwechselbare Kontur und wird von ihr so überzeugend performt, dass man sie, ohne auch nur einen Moment über Politik nachzudenken, unwillkürlich einer höheren Liga zuordnet als der, in der ihre Konkurrenten miteinander streiten.

 

Kulturell und politisch reizvoller als die Wiederwahl Giffeys wäre es aber, wenn Bettina Jarasch und Kai Wegner sich zusammentäten. Wegner hat das ausgeschlossen am Dienstagabend; aber wer am Freitag davor gesehen hat, wie vertraut die beiden miteinander umgingen und wie selbstverständlich sie einander duzten, mag nicht glauben, dass

das für immer gilt. Kai Wegner aus Spandau ist jenseits von Berlin eher unbekannt. In Berlin wirbt er damit, dass er berlinerisch spricht und ein Einheimischer sei. Im Wahlkampf hatte er immer einen verbissenen Trotz im Gesicht, so

als werde er es den Schnöseln schon noch zeigen. Aus der Perspektive von Mitte oder Prenzlauer Berg, den Zugezoge-nenvierteln, ist er eine unverständliche Figur.

 

So wie Bettina Jarasch aus der Sicht von Spandau oder Hellersdorf wie eine Fremde wirken muss. Sie ist zugezogen,

aus Augsburg, sie spricht also den Dialekt Bert Brechts, was die Verständigung womöglich leichter macht. Sie hat auf allen Wahlplakaten leicht melancholisch in die Kamera geblickt, wie in einen Spiegel – so, als fragte sie sich, ob sie selbst denn die Grünen wählen würde, nach den lächerlichen Auseinandersetzungen um die Sperrung, die Öffnung und dann wieder die Sperrung der Friedrichstraße, aus der doch in den nächsten hundert Jahren keine Rambla und keine Spacca-napoli wird.

 

Piefkes gegen Schwaben

 

Sie scheinen füreinander bestimmt zu sein, Bettina Jarasch und Kai Wegner, nicht nur, weil es beider Politik ganz gut täte, wenn der jeweils andere sie kontrollierte und korrigierte. Sondern auch, weil beider Melancholie und deutlich sichtbare Selbstzweifel der Stadt ganz gut täten, nach all den Jahren mit dem lauten, großspurigen Wowereit. Und mit Michael Müller, der nicht nachdenklich genug war, als dass Selbstzweifel hätten aufkommen können. Zumal die Stadt heute ja weniger zwischen Ost und West geteilt ist als zwischen den Piefkes und den Schwaben (wie man auch nichtschwäbische Zuzügler nennt). Jarasch und Wegner, das wäre der historische Kompromiss zwischen Alt- und Neu-Berlin.

 

Geht man durch die Stadt in diesen Tagen, trifft man kaum jemanden, der wirklich wüsste, wen er wählen soll. Es ist nicht Verzweiflung, es ist eher eine Abnutzung, eine profunde politische Ermüdung, die davon kommt, dass, ganz egal, mit welcher Partei man sonst sympathisiert, diese Partei aber in Berlin kaum wählbar ist: zu dogmatisch, zu reaktionär, zu provinziell, zu inkompetent. Wählt Giffey die SPD, Wegner die CDU?

 

Es hilft aber alles nichts. Weder die Blauhelme noch die Bayern werden kommen, wenn man sie ruft.

 

Berlin wählt: Die große Lust am Untergang (msn.com)