Hommage a Samuel Paty

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Samuel Paty (1973 - 2020)

 

 

Trauerfeier für  Samuel Paty

 

Ansprache des Französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron

 

 

Meine Damen und Herren,

 

heute Abend werde ich nicht den Kampf gegen den politischen, radikalen Islamismus zur Sprache bringen, der bis hin zum Terrorismus führt. Das habe ich bereits getan. Dem Bösen habe ich einen Namen gegeben. Wir haben entspre-chende Maßnahmen beschlossen, wir haben sie verschärft – und wir werden sie bis zum Ende durchziehen. Heute Abend werde ich nicht über die Gefolgsleute der Terroristen sprechen, ihrer Komplizen und all der Feiglinge, die diesen Anschlag begangen und ermöglicht haben. Ich werde nicht über diejenigen sprechen, die seinen Namen den Barbaren weitergereicht haben – sie haben es nicht verdient. Sie haben nicht einmal mehr Namen. Heute Abend werde ich nicht mehr über die unverzichtbare Einigkeit sprechen, die alle Franzosen empfinden. Sie ist kostbar und verpflichtet alle Verantwortlichen dazu, sich präzise auszudrücken und mit Strenge zu handeln.

 

Nein, heute Abend möchte ich über Ihren Sohn sprechen, ich möchte über Ihren Bruder, Ihren Onkel sprechen, den Sie geliebt haben, und über Deinen Vater. Heute Abend möchte ich über Ihren Kollegen sprechen, Ihren Lehrer, der gefallen ist, weil er sich dazu entschieden hatte, zu unterrichten; der ermordet wurde, weil er seinen Schülern beibringen wollte, wie man zu Bürgern dieses Landes wird. Die Pflichten zu erlernen, um sie erfüllen zu können; die Freiheiten zu erlernen, um von ihnen Gebrauch machen zu können. Heute Abend möchte ich mit Ihnen über Samuel Paty sprechen.

 

Der Wissbegierige

 

Samuel Paty liebte Bücher, er liebte Wissen, mehr als alles andere. Seine Wohnung war eine Bibliothek. Seine schönsten Geschenke waren Bücher, aus denen man etwas lernen konnte. Er mochte es, wenn Bücher seinen Schülern, aber auch seiner Familie und seinen Freunden die Leidenschaft des Wissens, den Geschmack der Freiheit vermitteln. Nach seinem Geschichtsstudium in Lyon und dem Gedanken daran, Forscher zu werden, hatte er den von Ihnen, seinen Eltern, Lehrer und Schulleiter in der Stadt Moulins vorgezeichneten Weg eingeschlagen, indem er „Pädagogikforscher“ wurde, wie er sich selbst gerne bezeichnete – indem er Lehrer wurde. Deswegen gibt es auch keinen besseren Ort als die Sorbonne, seit mehr als acht Jahrhunderten unser Ort des universellen Wissens, der Ort des Humanismus, an dem die Nation ihm diese letzte Ehre erweist.

 

Samuel Paty war ein leidenschaftlicher Lehrer, er unterrichtete mit großer Leidenschaft, und das hatte er an mehreren Mittelschulen und Gymnasien bis hin zu dem von Conflans-Saint-Honorine getan. Wir alle tragen in unseren Herzen und in unseren Erinnerungen das Bild eines Lehrers, der den Verlauf unseres Lebens verändert hat. Sie wissen schon: Dieser Lehrer, der uns das Lesen, Zählen und Vertrauen beigebracht hat. Dieser Lehrer, der uns nicht nur Wissen vermittelte, sondern der uns durch ein Buch, einen Blick, durch seine Gedanken einen Weg eröffnete.

 

„Standhaftigkeit gepaart mit Nachsicht“

 

Samuel Paty war einer jener Lehrer, die wir nicht vergessen, einer jener leidenschaftlichen Menschen, die in der Lage sind, Nächte damit zu verbringen, die Geschichte der Religionen zu studieren, um seine Schüler und ihre Überzeu-gungen besser zu verstehen. Diese bescheidenen Menschen, die sich selbst tausend Mal in Frage stellten – wie in jenem Kursus über Meinungs- und Gewissensfreiheit, den er seit Juli vergangenen Jahres in Moulins an Ihrer Seite vorbereitet hatte. Und die Zweifel, die er aus Dringlichkeit, aus Einfühlsamkeit teilte.

 

Samuel Paty verkörperte den Lehrer, von dem Jaurès in dem soeben verlesenen Brief an die Lehrer träumte: „Stand-haftigkeit gepaart mit Nachsicht“. Wer die Größe des Denkens zeigt, lehrt Respekt, zeigt, worum es in der Zivilisation geht. Er, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, „Republikaner zu erschaffen“.

 

Wie ein Echo erklingen deshalb die Worte Ferdinand Buissons: „Um einen Republikaner zu machen“, schrieb er, „muss man den Menschen, wie klein und bescheiden er auch sein mag [...] nehmen und ihm die Idee geben, dass er selbst denken muss, dass er niemandem gegenüber Glauben noch Gehorsam schuldig ist, dass es an ihm liegt, nach der Wahrheit zu suchen und sie nicht von einem Meister, einem Regisseur, einem Führer, wer auch immer er sein mag, zu übernehmen.“ Genau das war es auch, wofür Samuel Paty kämpfte: Republikaner hervorzubringen.

 

Die Macht, Republikaner zu machen

 

Und wenn diese Aufgabe heute geradezu titanisch erscheinen mag, vor allem dort, wo Gewalt, Einschüchterung und manchmal Resignation die Oberhand gewinnen, so ist sie doch wichtiger und aktueller denn je. Hier in Frankreich lieben wir unsere Nation, ihre Geographie, ihre Landschaften und ihre Geschichte, ihre Kultur und ihre Metamorphosen, ihren Geist und ihr Herz. Und wir wollen es allen unseren Kindern beibringen.

 

Hier in Frankreich lieben wir das irdische und gleichzeitig universelle Projekt der Republik, ihre Ordnung und ihre Ver-sprechen, jeden Tag aufs Neue zu beginnen. Und genau deswegen werden wir an jeder Schule, an jeder Mittelschule, an jedem Gymnasium den Lehrern die Macht zurückgeben, „Republikaner zu machen“, den Platz und die Autorität, die ihnen dafür zustehen. Wir werden sie ausbilden, wir werden sie gut behandeln, wir werden sie unterstützen, wir werden sie so weit wie nötig schützen. An den Schulen und außerhalb der Schulen haben der Druck, der Missbrauch von Unwissenheit und Gehorsam, den einige einführen möchten, keinen Platz in unserer Mitte. „Ich möchte, dass mein Leben und mein Tod nützlich sind“, sagte er einmal. Wie aus einer Vorahnung heraus.

 

Er verkörperte die Republik

 

Warum wurde Samuel also getötet? Warum? Am Freitagabend glaubte ich zunächst an den willkürlichen Wahnsinn, an absurde Willkür: ein weiteres Opfer des grundlosen Terrorismus. Schließlich war er nicht das Hauptziel der Islamisten, er war nur ein Lehrer. Er war nicht der Feind der Religion, die sie benutzten, er hatte den Koran gelesen, er respektierte dessen Anhänger, unabhängig von ihren Überzeugungen, er interessierte sich für die muslimische Zivilisation.

 

Nein, im Gegenteil, Samuel Paty wurde genau wegen all dessen getötet. Weil er die Republik verkörperte, die jeden Tag in den Klassenzimmern wiedergeboren wird, die Freiheit, die in der Schule weitergegeben und deren Fortbestand dort sichergestellt wird. Samuel Paty wurde getötet, weil die Islamisten unsere Zukunft wollen – und weil sie wissen, dass sie diese mit stillen Helden wie ihm niemals erringen werden. Sie trennen die Gläubigen von den Ungläubigen.

 

Der Hass der Unwissenden

 

Samuel Paty kannte nur Bürger. Sie, die Islamisten, nähren sich von Unwissenheit. Er glaubte an Wissen. Sie kultivieren den Hass auf andere. Er wollte immer das Gesicht der anderen sehen, den Reichtum der Andersartigkeit entdecken. Samuel Paty war das Opfer der tödlichen Verschwörung aus Dummheit und Lügen, der Verquickung aus Hass auf den anderen mit dem Hass auf alles, was für uns existentiell ist und uns ausmacht.

 

Samuel Paty wurde am Freitag zum Gesicht der Republik, zum Gesicht unseres Willens, die Terroristen zu zerschmettern, die Islamisten einzuengen, als eine Gemeinschaft freier Bürger in unserem Land zu leben, unsere Entschlossenheit zu zeigen, dass wir lernen und lehren werden, frei zu sein. Denn wir werden weitermachen, Herr Lehrer!

 

Wir werden die Freiheit verteidigen, die Sie so gut gelehrt haben, und wir werden den Säkularismus hochhalten. Wir werden die Karikaturen, die Zeichnungen nicht aufgeben, auch wenn sich andere zurückziehen. Wir werden alle Möglichkeiten, die die Republik der gesamten Jugend schuldet, ohne jede Diskriminierung anbieten. Wir werden fortfahren, professeur! Mit allen Lehrern und Professoren Frankreichs werden wir unsere Geschichte, ihren Ruhm wie auch ihre Wechselfälle lehren. Wir werden Literatur, Musik, alle Werke der Seele und des Geistes entdecken lassen. Wir werden auch künftig mit all unserer Kraft die Debatte lieben, die vernünftigen Argumente, die freundliche Überzeugungsarbeit. Wir werden die Wissenschaft und ihre Kontroversen lieben.

 

„Wir werden den Kampf weiterführen“

 

Wie Sie werden auch wir die Toleranz kultivieren. Wie Sie werden auch wir unermüdlich versuchen, zu verstehen – auch das zu verstehen, was andere uns wegnehmen möchten. Wir werden Humor und Distanz lernen. Wir werden uns daran erinnern, dass unsere Freiheiten nur möglich sind durch ein Ende von Hass und Gewalt, durch Respekt für andere.

 

Wir werden weitermachen, professeur! Und während ihres ganzen Lebens werden die Hunderte junger Menschen, die Sie ausgebildet haben, vom kritischen Geist Gebrauch machen, den Sie ihnen beigebracht haben. Vielleicht werden einige von ihnen selbst Lehrer werden. Dann werden sie junge Bürger ausbilden. Im Gegenzug sorgen sie dafür, dass die Republik geliebt wird. Sie werden den Menschen unsere Nation, unsere Werte, unser Europa unaufhörlich vermitteln und verständlich machen.

 

Ja, wir werden diesen Kampf für die Freiheit, für den Sie eingestanden sind, weiterführen. Weil wir es Ihnen schuldig sind. Weil wir es uns selbst schuldig sind. Weil in Frankreich, professeur, die Aufklärung nie vergeht. Lang lebe die Republik. Lang lebe Frankreich.

 

https://www.cicero.de/aussenpolitik/rede-macron-samuel-paty-beerdigung-islamismus-anschlag-frankreich-meinungsfreiheit?utm_source=cicero_newsletter

 






 

Der Islamismus und Frankreichs "Wiedereroberung"

 

Kai Funkschmidt, EZW Berlin

 

Die Ermordung des Geschichtslehrers Samuel Paty durch einen 18-jährigen tschetschenischen Geflüchteten am 16. Oktober 2020 hat in Frankreich landesweite Proteste, Trauerveranstaltungen, ein Staatsbegräbnis und politische Erschütterungen ausgelöst. Warum? Dschihadistische Morde begleiten Frankreich seit 1995, als die algerische „Groupe Islamique Armée“ (GIA) das Land mit einer Bombenserie auf öffentliche Verkehrsmittel und eine jüdische Schule überzog. Allein seit 2015 starben in Frankreich über 250 Menschen bei islamistischen Terroranschlägen, über 150 davon in Paris. Großdemonstrationen und Staatsbegräbnisse sind danach nicht die Regel – eher ist neben Trauer und Entsetzen eine gewisse Erschöpfung und Ratlosigkeit, fast schon eine resignierte Gewöhnung zu beobachten, als sei der Terror der Preis des Zusammenlebens. Um zu verstehen, warum nun der Tod eines einzelnen Lehrers so hohe Wellen schlug, muss man einige Tage vor den Mord zurückgehen.

 

Les Mureaux: Macrons Rede gegen die Islamisierung

 

Am 2. Oktober 2020 hatte Präsident Emmanuel Macron eine viel beachtete Rede vor staatlichen Funktionsträgern in Les Mureaux (Yvelines) gehalten.1 In Yvelines – hier liegt Versailles – herrschen zwar nicht die Zustände wie im berüchtigten „93“ (Nummer des Départements „Seine-Saint-Denis“), aber auch hier sind die Probleme mit islamistischen Strukturen groß. Macron beschrieb einen staatlichen Kontrollverlust gegenüber dem Islamismus und bezeichnete den Ort als ein „Gebiet, das im republikanischen Kampf steht“. Anders als sonst üblich sprach er nicht von „Kommunitarismus“, sondern von „Separatismus“. Ersteres ist ein soziales Phänomen, Letzteres ein planvolles politisches Programm zur Abspaltung, das man früher nur bei Bretonen und Korsen verortete. Er kündigte eine „Wiedereroberung“ (reconquête) der „verlorenen Gebiete der Republik“ an.

 

Die „verlorenen Gebiete“ sind geografisch und sozial gemeint. 2016 wies Pascale Boistard, Frauenbeauftragte der Regierung, darauf hin, dass sich Frauen in manchen Gegenden nicht mehr frei bewegen können. Es handelt sich hierbei stets um muslimisch dominierte Stadtteile, euphemistisch quartiers sensibles genannt, wo Frauen in Cafés (etwa mit der Begründung, man sei „hier schließlich im 93“, also terra islamica) nicht bedient werden und Kontrolleure „unzüchtig“ gekleideten Frauen den Zutritt zum Bus verweigern. Die wenigen autochthonen Französinnen, die aus Armutsgründen noch hier leben, wagen sich nur vorsichtig hinaus, „ohne Rock, ohne Schminke, unsichtbar sozusagen“. Muslimische Feministinnen der „Brigade des mères“ (Mütterbrigade), die auf der Straße mit Journalistinnen sprechen, werden vor laufender Kamera bedroht.2 Längst sind hier die Kräfteverhältnisse nicht mehr klar. Polizisten wagen sich nachts nur noch in Mannschaftsstärke in die Quartiers. Immer wieder werden Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen angegriffen.

 

Im vergangenen Sommer ging der Prozess gegen 13 Jugendliche in die zweite Runde, die 2016 vier Polizisten in ihren Wagen eingesperrt und diese in Brand gesetzt hatten, zwei erlitten schwerste Verbrennungen (die milden Urteile der ersten Instanz hatten zu Protesten der Polizei geführt). Zwei Wochen vor Patys Tod griffen vierzig Vermummte in Champigny-sur-Marne zur Machtdemonstration eine Polizeistation mit Eisenstangen und Mörserbeschuss an. Derartige Nachrichten finden sich in französischen Zeitungen regelmäßig. Als dann auch noch die Polizei vom damaligen Innenminister Christophe Castaner während der Black-Lives-Matter-Proteste unter pauschalen Rassismusverdacht gestellt wurde, rief eine neugegründete Polizeigewerkschaft erstmals zum Streik auf. Denn auch der wachsende Druck auf die Polizei ist Teil der Lage. Ihre Moral ist noch vom Oktober 2019 erschüttert, als ein muslimischer Polizist, angefeuert von seiner Ehefrau, in einer Pariser Wache vier Kollegen erstach. Macrons Rede fand in der Nähe jenes Ortes statt, an dem 2016 ein Polizistenpaar im eigenen Haus vor den Augen ihres Dreijährigen von einem Islamisten ermordet worden war. Macron nennt ihre Namen. Diese Art Respekt ist in Frankreich, anders als in Deutschland, auch gegenüber den Opfern islamistischer Anschläge üblich.

 

Die Rede von Islamisierung und staatlichem Kontrollverlust, einst der extremen Rechten vorbehalten und als „Verschwörungstheorie“ lächerlich gemacht, etabliert sich zunehmend als nüchterne Wirklichkeitsbeschrei-bung.

 

Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen - Zeitschrift für Religion und Weltanschauung. Materialdienst der EZW - Der Islamismus und Frankreichs "Wiedereroberung" (ezw-berlin.de)