Günter Rohrmoser (1927-2008)

 

 

 

 

Konservativ sein heißt heute, die natürlichen Lebensbedingungen erhalten,

den sozialen Zusammenhalt und den nationalen Gemeinsinn bewahren,

die beide die sozial Schwachen vor den Übergriffen der Mächtigen schützen.

Seit selbst die deutschen Sozialdemokraten der postmodernen Identitätspolitik

und dem neoliberalen Individualisierungszwang der Globalisierer verfallen sind,

also ihre früheren sozialpolitischen Interessen und Ziele verraten haben,

können nur noch Liberalkonservative die drei großen Ideale der politischen Moderne

von Freiheit, Gleichheit (vor dem Gesetz) und Solidarität austarieren und bewahren

und dazu die ökonomischen und sozialstaatlichen Rahmenbedingungen erhalten.

Denn die unpatriotischen Grünen sind die Speerspitze der postmodernen Identitätspolitik

und des neoliberalen Individualisierungszwanges, der unsere Gesellschaft so tief spaltet.

Angela Merkels Tendenz zu den teils libertären, teils ökologischen Zielen der Grünen

in Sachen Energie, Euro, Europa, Finanzen, Migration, Soziales, Verteidigung und Wirtschaft

hat nicht nur stetig und nachhaltig die Linken und Sozialdemokraten geschwächt,

sondern auch die Entstehung der rechten "Alternative für Deutschland" begünstigt.

Am Ende hat sie viele konservative Anhänger der CDU verprellt und heimatlos gemacht.

 

 

 

 

Konservativ – ein Überlebensimperativ

 

Von Günter Rohrmoser · 01.05.2007- im Deutschlandfunk Kultur

 

Wer sich heute als Konservativer bekennt oder als solcher bezeichnet wird, muss entweder mit mitleidigem Lächeln, vielleicht sogar Empörung rechnen oder gar ertragen, mitverantwortlich gemacht zu werden für

einen möglichen zukünftigen Faschismus in Deutschland.

 

Als die Intellektuellen vom Marxismus noch begeistert waren, gab es für deren Kampf gegen den Konservativismus noch eine ideologische Begründung, man konnte ihn als Steigbügelhalter des Nazismus entlarven. Diese marxistische Verbannungsformel liegt im Grunde genommen unverändert der Einheitsideologie des Antifaschismus in Deutschland zu Grunde.

 

Für den Alltagsgebrauch aber genügt es schon, den Konservativismus unmodern oder gar antimodern zu nennen. Damit ist er nach dem, was in unserem Land als modern verbreitet wird, erledigt. Alle Konservativen sind heute hoff-nungslos in der Defensive und ihre ehemaligen durchaus beachtlichen Formationen befinden sich intellektuell auf dem Rückzug oder sind gar in völliger Auflösung begriffen. In blindem Eifer hat sich die CDU von allen konservativen Elemen-ten getrennt, um dem vorgegebenen Ziel nahe zu kommen, als moderne, vom Konservativismus gereinigte Partei anerkannt zu werden.

 

Im Verhältnis zum Konservativismus steht die Bundesrepublik, wenn wir uns den Rest der Welt ansehen, als Ausnahme-fall da. Wir brauchen nur die Entwicklung in der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Die Reden der Wahlkämpfer in Frankreich sind wahre nationale Erweckungspredigten, man beschwört die große Geschichte der Nation und denkt daran, ein Ministerium für nationale Identität einzurichten. Präsident Putin nennt als geistiges Fundament des neuen Russlands die Geschichte, die Nation und die Religion. In Amerika bekennen sich bald 50 Prozent aller Amerikaner zum Kampf gegen das, was sie als libertäre Dekadenz empfinden und fordern eine national-konservative fundamental-christliche Kulturrevolution. In Italien wählt fast die Hälfte aller Wähler Parteien der rechten Mitte. Polen wird so konservativ

regiert, dass sich jeder Kommentar erübrigt.

 

Auch fast alle Parteien in Deutschland sind in ihrer Ausrichtung, weil sie die Erhaltung des Bestehenden wollen, als konservativ zu betrachten. Die SPD will den Sozialstaat bewahren, die CDU mit schwindender Kraft die Marktwirtschaft, die Grünen wollen gar die Schöpfung bewahren und die PDS will den demokratischen Sozialismus verwirklichen, der,

wie die Geschichte zeigt, alles andere als ein Erfolgsmodell ist und der Vergangenheit anzugehören schien. Nur in Deutschland entbehrt der konservative Gedanke jeden neuen Inhalts und wirkt, wenn er überhaupt noch öffentlich

in den Mund genommen wird, als leere Phrase oder Worthülse. Ein bekannter Wahlforscher dagegen stellte fest, dass im Unterschied zu der Orientierung der intellektuellen, kommentierenden und politischen Klasse der Trend in der Bevölkerung eindeutig in Richtung auf die Wiedergewinnung konservativer Werte, Tugenden und Einstellungen weist. Was man wünscht, sind Geborgenheit, Berechenbarkeit und vor allem Nachhaltigkeit.

 

Wo ist also das Problem? Es fehlt nur die Kraft, den Wandel der Epoche zu deuten, es fehlt eine Philosophie, die auf der Höhe der neuen geschichtlichen Herausforderungen ist und Konservativismus als Überlebensimperativ für die vor uns liegende Zukunft begreift. Dabei würde ein Blick auf unsere Familien, unsere Schulen, unsere Kirchen, die Wirtschaft

und unsere öffentliche Kultur völlig ausreichen, um zu erkennen, wie unabdingbar ein neues kulturkonservatives Programm für das immer labiler werdende Gemeinwesen der Bundesrepublik geworden ist. Die Zerstörung und Auflösung unserer Kultur in eine linksliberale, so genannte Konsensgesellschaft legt die Axt an die Wurzel unserer geschichtlichen Existenz.

 

Aus der Perspektive der übrigen Welt stellen sich die kulturellen Entwicklungen in Deutschland als Wiederkehr deut-scher Pathologie dar. Man schüttelt in der Regel nur noch den Kopf über uns. Modische Berufung auf Modernität genügt längst nicht mehr, wenn man zur Kenntnis nimmt, was in der Welt geschieht. Es ist falsch zu glauben, dass modern und konservativ unvereinbar seien. Wenn Fortschritt das zu Verändernde verneint und verschwinden lässt,

ist Fortschritt nicht mehr feststellbar. Jeder Begriff von Fortschritt setzt eine Antwort auf die Frage nach der Identität dessen voraus, was sich verändert hat. Ohne diese Antwort ist Modernität ein sinnloses Kreisen und Wirbeln des Nebels in fernen Horizonten, und in diesem Nebel bewegen wir uns mit dieser surrealistische Züge tragenden Diskussion um konservativ und modern heute. Die Moderne mag ihrer Vollendung entgegen streben, aber ihre Vollendung könnte auch der letzte Schritt auf dem Weg zu ihrer Selbstzerstörung sein. Darum und aus keinem anderen Grund ist, wie die übrige Welt längst erkannt hat, konservativ heute auch für uns ein Überlebensimperativ geworden.

 

Günter Rohrmoser, 1927 in Bochum geboren, zählt zu den international bedeutenden deutschen Sozialphilosophen. Die Schwerpunkte seiner Arbeit liegen auf den Gebieten der Religionsphilosophie, der Philosophie des Politischen und der Theorie der Gesellschaft. Er studierte Philosophie, Theologie, Nationalökonomie, Geschichte und Germanistik in Münster, lehrte an der Pädagogischen Hochschule Münster. Zunächst Honorarprofessor an der Universität Köln, war er seit 1976 Ordinarius für Sozialphilosophie an der Universität Hohenheim. Daneben lehrte er bis zum Sommer 1996 Politische Philosophie an der Universität Stuttgart. Rohrmosers Gesamtwerk umfasst unzählige Veröffentlichungen, er war Berater der Kirchen und der Politik. In seinem Buch „Das Elend der kritischen Theorie“ kritisierte er die Philosophen der „Frankfurter Schule“. Rohrmosers Werke stehen in vielen europäischen Universitäten wie Prag, Warschau und Moskau, aber auch in israelischen, japanischen

und chinesischen Hochschulen. Seine Zeitanalysen werden regelmäßig von der Gesellschaft für Kulturwissenschaft publiziert. Sein jüngstes Buch: „Konservatives Denken im Kontext der Moderne“ (2006).

 


 

geboren 29.11.1927 in Bochum, gestorben am15.09. 2008 in Stuttgart

   
 
 

1931–1944 Schulzeit in Bochum
1947–1954 Studium in Münster
1954 Promotion bei Benno von Wiese:

          „Kritische Erörterungen zu Gundolfs Shakespeare-Bild unter der Kategorie der Geschichte und der Person
1961 Habilitation an d. Phil. Fakultät der Universität Köln:

         „Subjektivität und Verdinglichung. Theologie und Gesellschaft im Denken des jungen Hegel
1961–1976 Professor für Philosophie an der PH Münster/Westfalen., Abt. Münster II;

          gleichzeitig Privatdozent, dann Honorarprofessor an der Universität Köln
1976 Persönlicher Ordinarius an der Universität Hohenheim,

           bis SS 1996 auch Lehrtätigkeit für Politische Philosophie an der Universität Stuttgart
1979 mit Hans Filbinger Gründer des Studienzentrums Weikersheim; dessen Vizepräsident
1981 Privataudienz bei Papst Johannes Paul II.
1995 Aufenthalt in Moskau. Langjährige akademische Kooperation mit der Russischen Akademie der Wissenschaften
1995 Emeritierung, Fortsetzung der Lehrveranstaltungen bis zu seinem Tod

 

 

Religion: evangelisch-lutherisch


1957 Verheiratet mit Anna-Maria, geb. Heumann (1927–2004), Dr. phil., Germanistin
Kinder: 2, bald nach der Geburt verstorben

   

Biografie:

 

Rohrmoser wurde in den letzten Kriegsjahren noch als Flakhelfer in seiner Heimatstadt Bochum eingesetzt. Von 1947

bis 1954 studierte er dann in Münster Philosophie, Theologie, Geschichte, Germanistik und Nationalökonomie. Seine akademischen Lehrer waren unter anderem Alfred Müller-Armack, der Theologe und Religionswissenschaftler Carl Heinz Ratschow und der Germanist Benno von Wiese.

 

Den philosophisch zentralen Einfluss übte Joachim Ritter auf Rohrmoser aus, zu dessen legendärer Schule neben H. Lübbe, O. Marquard, R. Spaemann und dem bedeutenden Verfassungsrechtler E. W. Böckenförde auch Rohrmoser gehörte. Bei Benno von Wiese promovierte Rohrmoser 1954 mit einer germanistisch-anglistischen Arbeit zu Gundolfs Shakespeare-Bild unter der Kategorie der Geschichte und der Person, in der er Shakespeare geschichtsphilosophisch und vor dem epochalen Umbruch der frühen Neuzeit interpretierte und gegen das übergeschichtlich zeitenthobene Shakespeare-Bild Gundolfs setzte, das noch vom George-Kreis inspiriert war. Die interdisziplinäre Fragestellung macht diese Arbeit hochinteressant; bemerkenswert ist auch, dass von Wiese und Ritter die Bestnote gaben, die Anglisten hingegen die philologische Seite der Arbeit scharf kritisierten.

 

An die Promotion schloss sich ein DFG-Stipendium an, mit dessen Hilfe Rohrmoser maßgeblich am Abschluss der großen Schiller-Monographie Benno von Wieses mitwirkte. 1961 folgte die Habilitation unter der Ägide von Ludwig Landgrebe an der Universität Köln mit einer dichten, aber sehr knapp gehaltenen Arbeit über Theologie und Gesell-schaft im Denken des jungen Hegel, die später auch in andere Sprachen übersetzt wurde. Sie konzentrierte sich auf Hegels ‚Theologische Jugendschriften‘, entwickelte aber im Kern schon Rohrmosers Grundkonzeption, wonach Hegel nach der Aufklärung den Kern der christlichen Glaubenswahrheit, dass Gott Mensch geworden und damit die endliche und die absolute Welt versöhnte, in eine philosophische Begriffsform übersetzt und so der Moderne zugänglich ge-macht habe.

 

Hegel war das Zentralgestirn in Rohrmosers Œuvre. Er bezog sich dabei vor allem auf die „Phänomenologie des

Geistes“, die Rechts- und die Religionsphilosophie. An die Rehabilitation Hegels schloss Rohrmoser durch seinen

Lehrer Joachim Ritter an, der Hegel als Denker der Freiheit freigelegt und zugleich im sittlichen Staat ein Ordnungs-prinzip jener Freiheit formuliert hatte.

 

In den 1960er-Jahren wirkte Rohrmoser als Privatdozent und später Honorarprofessor in Köln. Dort legte er die Grund-lagen für seine fundierte Auseinandersetzung mit den aufkommenden marxistischen Strömungen, insbesondere der Frankfurter Schule. Er hatte seinerzeit bereits einen großen Schülerkreis und mehrere Promovenden, darunter K. M. Kodalle, und erreichte in seinen Vorlesungen bis zu 1000 Hörer. Pläne der sozialdemokratisch geführten Landesregie-rung, für Rohrmoser ein Persönliches Ordinariat in Köln einzurichten, das vor allem der fundierten philosophischen Auseinandersetzung mit den neomarxistischen Ideologien gewidmet sein sollte, zerschlugen sich wegen Einreden

der CDU-Opposition, vor allem aber aufgrund eines Vetos des Heidegger-Schülers Volkmann-Schluck, seinerzeit Ordinarius für Philosophie in Köln.

 

Bis 1976 wirkte Rohrmoser als Ordinarius für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule in Münster/Westfalen.

1976 wurde er an die Universität Hohenheim auf den Lehrstuhl für Sozialphilosophie berufen, der ad personam durch den damaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger eingerichtet worden war. Rohrmosers Berufung zog vehemente Proteste seitens linker Gruppierungen nach sich. Sie war auch im Professorium der Universität umstritten. Ungeachtet der anfänglichen Schwierigkeiten wuchs Rohrmoser wieder eine zahlreiche, begeisterte Hörerschaft zu, die sich vor allem aus dem Stuttgarter Bildungsbürgertum rekrutierte. Rohrmoser wirkte nicht zuletzt durch seine faszinierende Rhetorik: er sprach in seinen Vorlesungen und zahlreichen öffentlichen Vorträgen immer völlig frei, verständlich und nahezu druckreif, in einem kraftvoll mitreißenden, zeitweise explosiven Duktus, wobei er philosophische Interpretation und Kommentar des aktuellen Zeitgeschehens pointiert und souverän zu verbinden wusste. Die äußere Erscheinung Rohrmosers entsprach nicht dem Bild vom bürgerlichen Ordinarius, und auch sein ausladender Intellekt schien eher

zu einem linken Theoretiker als zu einem Vordenker des Konservatismus zu passen.

 

Rohrmoser eröffnete sein eigenständiges Werk mit grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit der Frankfurter Schule (Das Elend der kritischen Theorie, 1967), aber auch mit Marx und verschiedenen neomarxistischen Strömungen. Von Hegel her suchte er den Marxismus als Hegel-Apostasie und -häresie und als Reduktion von der Vermittlung in Religion und Philosophie auf Ökonomie und Revolution zu begreifen. Er machte sich dabei die Hegelsche Dialektik zu eigen, und das Niveau seiner Auseinandersetzungen beeindruckte auch linke Theoretiker. Dabei wirkte auch immer seine brillante Vortragsweise. Rohrmoser wich der Fundamentalkritik der linken Studenten nicht aus. Er nahm sie auf und suchte durch den Rekurs auf den „unaufgehobenen Hegel“ die Überzeugungskraft der neuen Linksideologien zu brechen.

 

Seine Kenntnis des Marxismus prädestinierte ihn für eine prägende Wirkung in der Marxismus-Kommission der Evange-lischen Kirche in Deutschland. Im „RAF-Jahr“ 1977 wurde Rohrmoser auch in die von der sozialliberalen Bundesregierung eingesetzte Kommission zur Erforschung der Ursachen des Terrorismus berufen. Er legte eine geistesgeschichtliche Analyse der RAF-Ideologie vor, die diese und ähnliche Tendenzen als Epiphänomen der Moderne interpretierte. Persön-liche Kontakte und Gespräche fanden in der Zeit der Abkehr Horst Mahlers vom Linksterrorismus statt, wobei sich Mah-ler zeitweise auf Hegel und nicht zuletzt auf Rohrmosers Hegel-Interpretationen berief. Mahlers späteren Weg in den Rechtsextremismus hat Rohrmoser scharf kritisiert.

 

Die öffentliche Resonanz Rohrmosers war in jenen Jahren beträchtlich. So war er in den 1970er und 1980er-Jahren als gefragter Vortragsredner bei der SPD wie bei der CDU/CSU, aber auch bei Wirtschaftsverbänden und Akademien prä-sent. Er galt zu Recht als einer der wenigen konservativen Intellektuellen, die zur Auseinandersetzung mit den damals aktuellen neomarxistischen Strömungen in der Lage waren. Besonders eindrucksvoll sind seine philosophisch geistes-geschichtlichen Lageanalysen und seine Versuche einer Decodierung der Tendenzen der „Achtundsechziger“. In ihnen sah er eine „Kulturrevolution“, der eine geistige und moralische Wende des Bürgertums folgen müsse. Als Berater von Filbinger und Strauß mahnte Rohrmoser diese Wende immer wieder an. Dass sie 1982 mit der Regierungsübernahme Helmut Kohls zwar rhetorisch reklamiert wurde, aber dauerhaft ausblieb, hat Rohrmoser in einem gleichnamigen Buch 1982 als „Debakel“ kommentiert.

 

Rohrmoser legte am Beginn seiner Hohenheimer Jahre vor allem aktuell fokussierte Beiträge zur philosophischen Gegenwartsanalyse vor. An der Begründung und geistigen Fundierung des Studienzentrums Weikersheim durch Hans Filbinger im Jahr 1979 war Rohrmoser maßgeblich beteiligt. Er wirkte über mehrere Jahre als Vizepräsident und

Vordenker des Zentrums. Es ging ihm auch dabei um einen geistig fundierten Konservatismus, der die Kräfte der

Moderne analysieren und verstehen kann.

 

Seine Hohenheimer Vorlesungen erreichten seit den 1980er-Jahren immer stärker das Stuttgarter Bürgertum. In großen Zyklen, die erst teilweise ediert und erschlossen sind, wandte er sich unter anderem Platon und der antiken Philosophie zu, er interpretierte den Zusammenhang zwischen christlichem Glauben und philosophischer Reflexion und zeigte eingehend die tiefen und weitreichenden Prägungen des christlichen Erbes in der Neuzeit. Wiederholt interpretierte Rohrmoser die Hegelsche Religionsphilosophie als mögliche Grundphilosophie des Protestantismus. Damit wirkte er zeitweise erkennbar auf die Theologien von Wolfhart Pannenberg, aber auch von Jürgen Moltmann und Hans Küng

wie auf hohe Organe der Kirchenleitungen ein. Rohrmoser machte das Denken Friedrich Nietzsches als Diagnostiker

der Moderne lesbar. An Nietzsche entschied sich in Rohrmosers Sicht die Möglichkeit oder Unmöglichkeit modernen Christseins.

 

Später umkreiste er in philosophischer Perspektive „Deutschlands Tragödie“, die er in der Abkehr von der christlichen Geschichts- und Welterfahrung und im Nihilismus vorgeprägt sah. Rohrmoser betonte – darin im Anschluss an Thomas Mann – dessen Roman „Doktor Faustus“ er eine eingehende Interpretation widmete, dass auf die Dekadenz der Moder-ne der Rückfall in Barbarei folgen müsse. Verabsolutierte Emanzipation werde, so Rohrmosers Erwartung, in eine De-struktion der Freiheit führen.

 

Im Umfeld der landwirtschaftlichen Universität Hohenheim dachte Rohrmoser auch – in Übereinstimmung mit Robert Spaemann und im Anschluss an Hans Jonas – fundiert über die ökologische Krise der Moderne nach. Sie war für ihn ein dringendes Desiderat, das der bürgerliche Konservatismus seinerzeit noch nicht erfasst hatte. Gerade darin war Rohr-moser seiner Zeit weit voraus. Während er seine Erwartungen an den Regierungswechsel 1982 nicht zuletzt intellektuell enttäuscht sah, mit dem ehemaligen CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf aber lebenslang im Gespräch blieb, kon-statierte Rohrmoser das Ende der Teilung Deutschlands und Europas mit großer Befriedigung. Doch er blieb dabei nicht stehen. Er knüpfte weitreichende Kontakte nach Russland, wo seine Konzeption Politischer Philosophie eine bedeutende Resonanz erfuhr, die frei von den Rankünen war, wie sie Rohrmoser oftmals in Deutschland entgegenschlugen; seine Hegel-Studien wurden in Frankreich übersetzt und rezipiert.

 

Rohrmoser sah in Russen und Deutschen die beiden „metaphysischen Völker“, wobei dieser Topos bei ihm keine nennenswerte antiwestliche Implikation hat. Die Erwartung einer christlichen Erneuerung knüpfte er vor allem an Russland. Er weilte 1996 in Moskau, wo sich ein Symposion an der Akademie der Wissenschaften seinem Werk widmete; umgekehrt lehrte Anatol Frenkin an Rohrmosers Hohenheimer Lehrstuhl. Die enge Kooperation mit der Sowjetischen und später Russischen Akademie der Wissenschaften hat Rohrmoser mit Unterstützung von Daimler Benz voran ge-trieben.

 

Die Sympathien nach Russland waren wechselseitig: bei seinen großen Geburtstagen traten in der Regel russische Laudatoren auf und im 2. Band der „Anthologie des politischen Denkens der Welt“ wurde Rohrmoser neben Max Weber, Karl Jaspers oder Herbert Marcuse eingehend behandelt. Als Versuch einer Zeitdiagnostik auch für das im Umbruch

begriffene zerfallende Imperium bleibt das Gespräch mit Frenkin ein bedeutendes Zeitdokument. Mehrfach setzte

Rohrmoser in seinen Vorlesungen Hegel und Dostojevski in Bezug zueinander.

 

1980 wurde Rohrmoser von Papst Johannes Paul II. in Privataudienz empfangen. Das Gespräch behandelte, wie Rohr-moser dem Verfasser berichtete, die Säkularisierung und die Angewiesenheit der Moderne auf die christliche Wahrheit.

 

Rohrmosers Buch „Der Ernstfall“ (1994) zeigte eindrücklich, dass ein westlicher Liberalismus in dem Augenblick, in dem er seinen bedeutenden weltgeschichtlichen Sieg errungen hat, auch an das Ende seiner Ressourcen gelangt ist. Gegen-läufig zu Francis Fukuyamas Diagnose vom „Ende der Geschichte“ und über Huntingtons Befund eines bevorstehenden „clash of civilizations“ hinausgehend sah Rohrmoser die Notwendigkeit einer Fundierung der Fundamente der Freiheit. Mit Hegel hielt er an der Unabdingbarkeit des liberalen Rechtsstaates fest, der aber ein vorpositives Fundament be-nötige.

 

Den Ernstfall, also die Erschöpfung natürlicher ökologischer und ökonomischer Ressourcen der freiheitlichen Demo-kratie zu denken, schien ihm unerlässlich, um dieses Fundament zu begründen. Rohrmoser übernahm den „Moder-

nitätstraditionalismus“ (O. Marquard) seines Lehrers Joachim Ritter mit einer wesentlichen Ergänzung: die moderne

Welt gewinnt in Rohrmosers Verständnis ihre normativen Begründungen nicht aus sich selbst. Es bedarf vielmehr der Anknüpfung an die großen Überlieferungen von Kunst, Religion und Philosophie, um die Selbstzerstörungskräfte

einer entfesselten Moderne, auf die Rohrmoser nachdrücklich hinwies, einzuhegen.

 

Gerade „Der Ernstfall“ fand noch einmal große Resonanz; so wurde Rohrmoser auch von der SPD nahestehenden In-tellektuellen wie Johano Strasser, Peter Glotz und Peter von Oertzen eingehend gewürdigt, war für sie ein wichtiger Gesprächspartner. Von Oertzen, der mit Rohrmoser zusammen der genannten Marxismus-Kommission angehört hatte, nannte Rohrmoser, durchaus im Sinn von dessen Selbstverständnis und ohne Differenzen zu verschweigen, einen Geist „über den ideologischen Fronten“, der gleichermaßen ein „überzeugter Konservativer“ und „leidenschaftlicher Libera-ler“, dabei aber „weder Prophet noch Demagoge“ sei.

 

Im Zentrum von Rohrmosers Spätwerk steht die philosophische Auseinandersetzung mit dem christlichen Erbe Europas. Dabei hat er mit Hegel betont, dass die Deszendenz- und Kenose-Religion (Gott wird in Christus Mensch) zugleich auch Inbegriff einer Vernunft sei, die nicht mit dem endlichen Verstand zu verwechseln ist und die auch nicht in der Hybris

der großen Ideologien aufgeht. Zugleich konstatierte er die Problematik des sich selbst säkularisierenden Christentums der Moderne, ausgehend von Diagnosen Nietzsches, Max Webers oder Ernst Troeltschs.

 

Das lebendige Fundament christlichen Glaubens´fand Rohrmoser insbesondere bei Luther, Augustinus und Paulus. Damit erbrachte er einen eigenständigen Beitrag zu der Religionsphilosophie des Christentums, ausgehend von der Paulinischen Theologie, wie sie in den letzten Jahrzehnten bei Jacob Taubes, Giorgio Agamben, aber auch bei franzö-sischen Philosophen wie Michel Henry formuliert werden sollte. Zugleich würdigte er in einer aus Hohenheimer Vor-

lesungen hervorgehenden Monographie konservatives Denken im Kontext der Moderne und setzte sich dabei unter anderem mit Arnold Gehlen, Leo Strauss und Carl Schmitt auseinander.

 

Im Lauf seines Lebens hat Rohrmoser in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften in einem breiten Spektrum publi-ziert. Es reicht von Blättern wie der „Welt“ und des „Münchner Merkur“, den „Evangelischen Kommentaren“ und verschiedenen katholischen Leitmedien bis zu „Mut“ oder „Junge Freiheit“. Nicht zuletzt war er auch ein gesuchter Interviewpartner. Im letzten Jahrzehnt seines Wirkens verengte sich das Spektrum der Presse, auch aufgrund einiger kolportierter Äußerungen Rohrmosers über Homosexualität und Schwangerschaftsabbruch, auf konservative Publi-kationsorgane. Er kommentierte bis zu seinem Tod das Zeitgeschehen in eigenen Kolumnen, die die „Gesellschaft für Kulturwissenschaft“ vertrieb.

 

Rohrmosers große Begabung war es, aus dem Blick der Philosophie die Tiefenstrukturen der Gegenwart zu begreifen. Vergangenes Denken verstand er, darin in Übereinstimmung mit Joachim Ritter, nicht aus dem historischen Abstand.

Er richtete daran vielmehr die Frage: „Was gibt uns das zu sehen?“. Der moderne Konservative müsse gleichermaßen

vor 2000 Jahren Denk- und Ideengeschichte sich Rechenschaft ablegen und die ökonomischen, sozialen und strategi-schen Probleme der Gegenwart begreifen können. An binnenkonservativen intellektuellen Debatten war er weniger interessiert. Die Engführung der „Neuen Rechten“ auf die „Konservative Revolution“ der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts, wie sie in der Folge Armin Mohlers in den 1990er-Jahren in den Debatten um die „selbstbewusste Nation“ gängig wurde, lag Rohrmoser fern.

 

Die fein ziselierten Argumentationslinien lagen weniger in Rohrmosers Interesse als der kongeniale Blick auf Grund-linien und -strukturen von Philosophie, Theologie, Politik und Ökonomie. Auch durch seine Wirkung in Hohenheim bedingt, wo er keine philosophische Fakultät an der Seite hatte, wurde er zu einem Solitär, der völlig unbeeindruckt

von Moden seinen philosophischen Weg ging.

 

Ähnlich wie andere Exponenten der Ritter- Schule war auch Rohrmoser davon überzeugt, dass in der Philosophie das Neue selten das Richtige sei. Nicht in systematischer Konstruktion, sondern in einer zu Ende denkenden Interpretation und Rekonstruktion sah er seine Aufgabe. Wie die Festschrift ‚Tamen! Gegen den Strom‘, die Rohrmoser zum 80. Geburts-tag gewidmet wurde, belegt, faszinierte sein Denkansatz weit über den engeren Bereich der Philosophie hinaus; dies dokumentierte sich in einer Zeit, in der die große gesamteuropäische Öffentlichkeitswirksamkeit Rohrmosers schon in der Vergangenheit lag. Zahlreiche namhafte Persönlichkeiten dokumentierten durch ihre Beiträge Verbundenheit mit ihm.

 

Rohrmoser, der überzeugte Lutheraner, wirkte auch in die katholischen Kirche hinein, wie ihn eine langjährige Freund-schaft mit dem DDR-Dissidenten Rudolf Bahro verband. Italienische, französische und russische Philosophen rezipierten ihn in höherem Maße als deutsche.

 

Rohrmoser ist als unzeitgemäßer, in keinen politischen Parteienzusammenhang zu fixierender Geist zu verstehen, der, wie kaum ein anderer, die Krisen der Moderne erkannt hat – und aus dem mit Hegel gedachten – letztlichen Einssein

von Glaube und Vernunft schöpfte. In die Irre geht das vielfach gebrauchte Wort vom ‚Sozialphilosophen‘. Rohrmoser bespielte die Klaviatur der Philosophie in ihrer ganzen Breite, mit besonderem Akzent auf Politischer und Religions-philosophie.

 

Als Mensch war er bescheiden, aber der Lebensfreude zugewandt, als Freund von hoher Verlässlichkeit, Zuwendung und Loyalität, die er auch umgekehrt erwartete. Der begnadete Polemiker war im Inneren empfindsam und verletzlich. Seine über Jahre hinweg schwer kranke Ehefrau pflegte er hingebungsvoll. Die mitunter harte, polemische Schale wich, wenn man ihn näher kannte: So legte sich gerade für ihn das Bild nahe, das Platon von Sokrates zeichnete: er sei nach außen wie eine Satyrfigur, nach innen aber aus purem Gold gebildet.

 

Es fügte sich zu seinem Leben, dass Rohrmoser ohne weitere Ansprachen nach evangelisch-lutherischem Ritus bestattet wurde. Neben das Lutherische „TAMEN!“, das er als Lebensmotto gewählt hatte, trat bei ihm das Wissen, dass der Mensch Gerechter und Sünder zugleich ist (simul iustus et peccator).

 

Harald Seubert

 

Quellen:

 

Nachlassmaterialien und Manuskripte in: Bibliothek des Konservatismus Berlin, im Privatbesitz des Verfassers, Nürnberg, und von Gisela Schenk, Stuttgart; UA Stuttgart-Hohenheim, Personalakte.

 

Werke:

 

Subjektivität und Verdinglichung. Theologie und Gesellschaft im Denken des jungen Hegel, 1961 (französisch 1979);

Das Elend der kritischen Theorie. Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, 1970 (4 Auflagen);

Nietzsche und die Folgen der Emanzipation, 1971;

Herrschaft und Versöhnung. Ästhetik und die Kulturrevolution des Westens, 1972;

Kulturrevolution und Gewaltmentalität. Der geistige Hintergrund, 1978;

Shakespeare. Einführung die Geschichte, 1971;

Die Herausforderung der Radikalen. Kolumnen, 1973;

Die metaphysische Situation der Zeit, 1975;

Zeitzeichen. Bilanz einer Ära, 1978;

Zäsur. Wandel des Bewusstseins, 1980;

Krise der politischen Kultur, 1980;

Religion und Politik in der Krise der Moderne, 1989;

Emanzipation oder Freiheit. Das christliche Erbe der Neuzeit, 1970, 2. Aufl. 1995;

Neues konservatives Denken als Überlebensimperativ. Ein deutsch-russischer Dialog, (mit A. Frenkin) 1994;

Der Ernstfall. Zur Krise unserer liberalen Republik, 1994, (5 deutsche u. 4 russische Auflagen);

Die Wiederkehr der Geschichte, 1995;

Christliche Dekadenz in unserer Zeit, Plädoyer für die christliche Vernunft, 1996;

Landwirtschaft in der Ökologie- und Kulturkrise, 1996;

Kampf um die Mitte. Der Moderne Konservatismus nach dem Scheitern der Ideologien, 2000;

Geistige Wende. Christliches Denken als Fundament des Modernen Konservatismus, 2000;

Nietzsche als Diagnostiker der Gegenwart, 2000;

Deutschlands Tragödie. Der geistige Weg in den Nationalsozialismus, 2002;

Dekadenz und Apokalypse. Thomas Mann als Diagnostiker des deutschen Bürgertums, 2005;

Konservatives Denken im Kontext der Moderne. Kulturrevolution in Deutschland. Philosophische Interpretationen der geistigen Situation unserer Zeit, hg. von Harald Seubert, 2008;

Glaube und Vernunft am Ausgang der Moderne. Hegel und die Philosophie des Christentums, hg. von dems., 2009.

 

In Vorbereitung:

 

Moderne und Christentum, aus dem Nachlass hg. von Harald Seubert;

Platon: Der konservative Revolutionär.

 

Literatur:

 

Philosoph in der Kulturkrise, 1993;

R. Bahro, Logik der Rettung, 1990;

P. von Oertzen, Weder Prophet noch Demagoge, in: Die Zeit vom 13.1.1995;

Ph. Jenninger, R. W. Peter uns H. Seubert (Hgg.), Tamen! Gegen den Strom. Günter Rohrmoser zum 80. Geburtstag, 2007; darin: H. Seubert, Die Krise der Moderne in Gedanken gefasst – Günter Rohrmoser. Ein philosophisches Portrait, 23-73.

 

© 2023 Landesarchiv Baden-Württemberg

 


 

Nachruf auf den Interpreten des Logos in der Kulturkrise

Das Gründungsmitglied der Gesellschaft für Kulturwissenschaft e.V., unser hochverehrter Mentor, der Ordinarius für Sozialphilosophie und Politische Philosophie emeritiert an den Universitäten Stuttgart und Stuttgart-Hohenheim,

Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland,

Professor Dr. Günter Rohrmoser,

ist am Montag, den 15. September 2008 von uns gegangen. http://gfk-web.de/inhalt/leitthemen/080926.html

 



 

Günter Rohrmoser, Glaube und Vernunft am Ausgang der Moderne.

Hegel und die Philosophie des Christentums

 

Herausgegeben von Harald Seubert

 

Die Frage von Glauben und Wissen bricht im Zeichen der Aufklärung in höchster Dramatik auf. Hegel begreift dabei die Verabsolutierung der Freiheit, wie sie die Aufklärungsepoche entwirft, als das nach zwei Jahrtausenden ans Licht getre-tene Prinzip des Christentums: Freiheitsreligion ist das Christentum im Sinne der Menschwerdung Gottes. Deshalb ist das Schicksal des Christentums so eng mit jenem der Aufklärung verknüpft, dass sie mit ihm sich selbst zerstören müss-te. Bei aller Bewunderung für den Ordo des Mittelalters entfaltet Hegel von hier her ein vertieftes Verständnis von Auf-klärung, Neuzeit und Christentum. Das Thema der Hegelschen Religionsphilosophie hat den Stuttgarter Sozialphiloso-phen Günter Rohrmoser (1927–2008) über Jahrzehnte hinweg begleitet. Postum wird hiermit eine Zusammenfassung seines religionsphilosophischen Denkansatzes veröffentlicht, der die Hegelsche Philosophie für die Verortung des Christentums erschließt.

 

Sankt Ottilien: EOS-Verlag 2009 - ISBN 978-3-8306-7361-3, PREIS 48,00 EUR