Tiere als andere Geschöpfe


 

Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf

 

Grundlegende Einsichten

 

Für die christliche Sicht des Verhältnisses von Mensch und Tier bleibt grundlegend, wie die Bibel, vor allem in ihren Aussagen über die Welt als Gottes Schöpfung, dieses Verhältnis bestimmt. Mensch und Tier gehören zusammen als Geschöpfe: Beide geben sie sich ihre Lebensmöglichkeiten, ihren Lebensraum und ihre Lebensversorgung, nicht selbst. Sie verdanken ihr Leben Gott, dem Schöpfer und Erhalter. Das schließt sie zusammen in Abhängigkeit und Angewiesen-sein (Ps 104, 27-30) und verwehrt dem Menschen, sich in Hochmut grundsätzlich vom Tier abzusetzen und über es zu erheben.

 

Die Geschöpfe Mensch und Tier sind ihrerseits nur ein Teil des großen Gesamtgefüges der Schöpfung. In ihm vollzieht sich das Wunder, daß Leben stetig und ohne das Zutun der Menschen da ist und Bestand hat. Je genauer die Erschei-nung des Lebens untersucht wird, desto mehr bietet sie Anlaß zu dankbarem Staunen. In solches Staunen führt gerade auch die Betrachtung der Tierwelt. Allerdings darf es kein flüchtiges Gefühl sein, sondern muß gelernt werden und als bleibende Einstellung Handeln und Verhalten bestimmen. Es gibt Grund für die Erwartung, daß Menschen, die Tiere in der Haltung dankbaren Staunens wahrnehmen, ihnen auch mit mehr Achtung und Scheu begegnen.

 

Eine solche Betrachtungsweise führt auch zu der Einsicht, daß weder die Lebewesen noch die unbelebten Teile der Welt darin aufgehen, für die Menschen und ihren Nutzen dazusein. Noch vor ihrer Nutzung durch Menschen haben sie einen Nutzwert für andere Lebewesen und für den Lebensprozeß insgesamt. Schon dies legt den Menschen bei ihrem Um-gang mit der Natur und so auch mit den Tieren Rücksichten auf; sie dürfen sich nicht nur an ihren eigenen Interessen ausrichten, sondern müssen die möglichen Auswirkungen auf die Lebensmöglichkeiten anderen Lebens mitbedenken. Vor allem aber haben die Mitgeschöpfe der Menschen unabhängig von ihrem Nutzwert einen eigenen Sinn und Wert.

 

In diesem Kontext ist die Beauftragung der Menschen zur Herrschaft über die Tiere und über die Erde insgesamt (1. Mose 1,27 f; Ps 8, 7-9) zu lesen und zu deuten. Sie macht auf fundamentale Unterschiede zwischen den Menschen und ihren Mitgeschöpfen aufmerksam. Von der unveräußerlichen Würde und dem uneingeschränkten Lebensrecht jedes einzelnen kann nur beim Menschen die Rede sein. Insofern bleibt es auch durchaus sachgemäß, von einer Sonder-stellung des Menschen gegenüber der Natur zu sprechen. Nicht die besondere Stellung selbst ist strittig, sondern die Art und Weise, in der sie wahrgenommen wird. Herrschaft verlangt Demut. Als Gottes Ebenbild hat der Mensch maßzu-nehmen am Urbild. Dann muß aber alle Ausübung von Macht auf die Bewahrung der Schöpfung gerichtet sein und in liebender Sorge und hegendem Bewahren geschehen.

 

Die Sonderstellung des Menschen unter seinen Mitgeschöpfen schließt die Aufgabe ein, in besonderer Weise Verant-wortung wahrzunehmen. Allein der Mensch kann die Folgen seines Handelns für Mitmensch und Mitgeschöpf erkennen und daraus Folgerungen ziehen; allein der Mensch kann darum auch an der Schöpfung schuldig werden.

 

Die biblischen Texte leiten aber nicht nur an, über das Wunder des Lebens zu staunen und die Größe der Verantwortung des Menschen zu erkennen. Sie zwingen auch zu einer nüchternen, illusionslosen Sicht der kreatürlichen Welt: Alles Leben wird in engen Grenzen gelebt. Damit entstehen Konkurrenz, Aggression und der Kampf ums Überleben. Das Verhältnis der Tiere untereinander ist von Gewalt geprägt und läßt den menschlichen Betrachter nicht selten er-schrecken über die Grausamkeit und Brutalität des kreatürlichen Lebens. Aber auch zwischen Menschen und Tieren herrscht Gewalt (1. Mose 6,13; 9,1-4). Solange es Leben auf der Erde gibt, wird dieser Zustand andauern. Tierliebe und Menschenliebe können zueinander in Spannung treten. Ganz offenkundig wird dies etwa bei Krankheitserregern. Wenn Menschen von der Tötung tierischen Lebens leben oder zur Abwehr von Gefahren Tiere töten, dann ist dies wohl ein Zeichen der - in der Sprache der Theologie - "gefallenen" Welt, jedoch nicht in sich bereits individuelle Schuld und Belastung des Gewissens.

 

Das bedeutet freilich keine Rechtfertigung für eine gedankenlose, ungehemmte Nutzung oder gar Ausbeutung der Tiere durch die Menschen. Die Legitimation, Leistungen und Leben der Tiere in Anspruch zu nehmen, bleibt innerhalb der Klammer des Auftrags zu einer Herrschaft in liebender Sorge und hegendem Bewahren. Dies zeigt sich in den ein-schlägigen biblischen Texten schon am Verbot des Blutgenusses 1. Mose 9,4, das von Juden und Moslems bis heute eingehalten wird. Dieses Bluttabu ist Ausdruck einer tiefen Achtung und Scheu vor Gott, der den Tieren das Leben gibt und darum die Verfügungsgewalt über ihr Leben besitzt. Wo bewußt bleibt, daß wir Menschen in der Tat vom Opfer anderen Lebens leben, wird auch der Umgang mit diesem anderen Leben von Ehrfurcht bestimmt sein. Heute geschieht das Töten von Tieren in der Regel ohne persönliche Beteiligung des Nutzers und zudem in so riesigen Zahlen, daß das Tier nicht mehr als Opfer in einem religiösen Sinne, sondern als bloße, beliebig nutzbare Ressource wahrgenommen wird.

 

Wenn die Menschen ihre Herrschaft über die Tiere in liebender Sorge und hegendem Bewahren ausüben, ergeben sich konkrete Veränderungen und Verwandlungen in dem zwischen ihnen bestehenden Verhältnis der Gewalt: Sie laufen auf eine Verminderung der Gewalt hinaus. Dabei geht es insbesondere darum, die Zufügung von Leiden und Schmerzen zu begrenzen oder ganz zu vermeiden. Das Gewaltverhältnis zwischen Mensch und Tier ist zwar grundsätzlich unaufheb-bar und besteht qualitativ fort. Aber Gewalt kann so und kann so ausgeübt werden, ihr quantitatives Ausmaß läßt sich beeinflussen. Darauf zielt auch die Mahnung des Alten Testaments, barmherzig mit den Tieren umzugehen: "Der Ge-rechte erbarmt sich seines Viehs; aber das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig" (Spr 12,10; vgl. 2. Mose 20,10). Man kann noch einen Schritt weitergehen und im Sinne der Ausweitung der mitmenschlichen zu einer mitgeschöpflichen Ethik die Aussagen des Neuen Testaments über die Werke des lebendigmachenden Geistes (Gal 5,22f; Eph 5,9) auf das Verhalten gegenüber den Tieren beziehen: Liebe, Friede, Güte, Treue, Sanftmut und Gerechtigkeit müssen sich im Umgang mit allem Lebendigen bewähren. Ein Wort aus dem letzten Jahrhundert besagt, daß das "Vieh im Stall" an seiner Behandlung merkt, "wenn der Bauer sich bekehrt".

 

Auf eine Verminderung der Gewalt ist auch die Verpflichtung zur Humanität gerichtet. Nur auf den ersten Blick wirkt es befremdlich, den Umgang von Menschen mit Tieren am Maßstab der Humanität zu messen. Aber die Menschlichkeit des Menschen steht in allem, was er tut, auf dem Spiel. Sie bewährt sich zum Beispiel darin, daß er die Kräfte der Ver-nunft, die ihm gegeben sind, einsetzt und den Empfindungen des Mitgefühls Raum gibt. Ein gedankenloser oder ein brutaler Umgang mit den Tieren ist nicht menschlich. Es besteht Grund zu der Befürchtung, daß Gedankenlosigkeit und Brutalität im Verhalten gegenüber dem Mitgeschöpf Tier durchschlagen auf das Verhalten gegenüber dem Mitgeschöpf Mensch.

 

Im Verhältnis zu den Tieren geht es jedoch nicht allein um Barmherzigkeit und Humanität, sondern auch um Gerechtig-keit. Viele sehen in dieser Forderung eine unzulässige Gleichstellung von Mensch und Tier. Dabei wird verkannt, daß Gerechtigkeit nicht nur eine Pflicht unter Gleichgestellten ist; sie ist vielmehr gerade auch gegenüber Hilflosen, Unter-drückten und Unmündigen, somit auch gegenüber Tieren zu erfüllen. Die Forderung nach Gerechtigkeit zielt dabei keineswegs darauf, Tiere wie Menschen zu behandeln. Die Mensch-Tier-Unterschiede werden nicht eingeebnet, sondern beachtet: Das Tier ist nicht nur wegen seiner Nähe zum Menschen und nach Maßgabe seiner Menschenähnlichkeit zu akzeptieren, sondern gerade auch in seiner Andersartigkeit, die nicht als abwertender Mangel zu verstehen ist. Den Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen bedeutet, ihnen ein Leben in Menschlichkeit zu sichern; entsprechend verlangt Gerechtigkeit im Blick auf die Tiere, sie tiergerecht, insbesondere artgerecht zu behandeln. Die artgerechte Behandlung von Tieren hat zur Voraussetzung, ihnen Bedürfnisse zuzugestehen - und zwar, bezogen auf den Menschen, sowohl gleiche als auch andere - und sich mit diesen Bedürfnissen vertraut zu machen.

 

In jüngster Zeit ist das Problem deutlicher ins Bewußtsein getreten, daß der Eigentumsbegriff in der Anwendung auf Lebewesen ungeklärt ist. Für den Rechtsbegriff des Eigentums ist es kennzeichnend, daß die Sache selbst, an der das Eigentum besteht, der Verfügung über sie keine immanenten Schranken setzt und Eingrenzungen der ungehinderten Verfügungsgewalt über das Eigentum (wie etwa die in Art.14 des Grundgesetzes verankerte Norm der Sozialpflichtig-keit) erst nachträglich hinzutreten. Aber ein Tier kann schwerlich in ebendem Sinne als Sache verstanden werden, wie dies z.B. bei einem Buch oder einer Aktie oder einem Haus der Fall ist. Erst kürzlich sind daraus für das bürgerliche Recht in der Bundesrepublik Deutschland erste Konsequenzen gezogen worden (s. oben Ziffer 3). Können Tiere aber über-haupt als Größen gelten, an denen Eigentum zu begründen ist? Die biblisch-theologische Sicht muß sich ohnehin an dem Bekenntnis orientieren: "Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen" (Ps 24,1). Alle Eigentums- und Rechtsvorstellungen, die Menschen entwickeln und von denen sie sich in ihrem Umgang mit der Natur leiten lassen, sind dem Respekt vor Gottes Rechtsvorbehalt auf seine Erde ein- und zuzuordnen. Zu denken gibt in diesem Zusammenhang, daß noch das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 ein Eigentum an Tieren nur im Außenverhältnis gegenüber den Bestreitern dieses Rechts, nicht aber im Innenverhältnis zu den Tieren selbst kennt. Darin steckt die Einsicht, daß Menschen mit den Mitgeschöpfen, die in ihrer Verfügung stehen, nicht nach freiem Be-lieben verfahren dürfen.

 

Das Mensch-Tier-Verhältnis ist aus biblisch-theologischer Sicht nicht vollständig beschrieben, wenn sich der Blick allein auf die Welt, wie sie ist, richtet. Diese Perspektive verhilft zu der nötigen Nüchternheit. Aber der nüchterne Realismus verkommt zu einem Sich-Abfinden mit den gegebenen schlechten Verhältnissen, wenn er nicht umgriffen wird von der Vision einer anderen, neuen Welt. Für die biblischen Texte ist es kennzeichnend, daß alle Aussagen über Mensch und Tier im Licht der Erwartung einer anderen, neuen Welt und des Friedens in und mit der Schöpfung stehen. Die Schö-pfungsgeschichte (1.Mose 1,29f) bewahrt die Erinnerung daran auf, daß die von Gott sehr gut gemachte Welt kein Blutvergießen unter Tieren und Menschen kannte: Beiden wird pflanzliche Nahrung zugewiesen. Dieser Schöpfungs-friede ist dann Gegenstand alttestamentlicher Verheißungen der kommenden neuen Welt: "Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern ..." (Jes 11,6-9; vgl. 65,17ff). Paulus bezieht die "Herr-lichkeit, die an uns offenbart werden soll", ausdrücklich auf "die ganze Schöpfung", die "bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet" (Röm 8,18-25). Alle diese Hoffnungen werden aufgerufen und wachgerufen, wenn wir im Vaterunser beten: "Dein Reich komme" (Matth 6,10). Die kommende neue Welt und darum auch der Frieden mit der Natur sind für den christlichen Glauben das Werk Gottes. Menschen können die Verhältnisse des Reiches Gottes nicht heraufführen. Aber wie es im Blick auf die Verhältnisse unter Menschen Anfänge und den Vorschein der kommenden Erlösung gibt (vgl. 2. Kor 5,17ff; Gal 5,16ff; Eph 4,17), so kann die neue Schöpfung auch im Verhältnis zu den Tieren durch ein entsprechendes Handeln der Menschen zeichenhaft sichtbar werden.

 

https://www.ekd.de/tier_1991_tier2.html