Praktisches Christentum

 

 

Besinnung auf das Wesentliche in Zeiten des Corona-Virus

 

Kurt Bangert

 

Viele sagen, dass wir uns in Krisenzeiten wieder auf das Wesentliche besinnen sollten. Und manche hamstern deswegen Nudeln und Toilettenpapier. Das ist gar nicht einmal so abwegig, denn kaum etwas ist für unser Leben wichtiger als zu essen, zu verdauen und Überflüssiges auszuscheiden. Trinken ist mindestens ebenso wichtig; aber der wichtigste physikalische Vorgang ist doch das Luftholen. Nichts ist so elementar, so lebensnotwendig, aber in Zeiten des Corona-Virus auch so gefährdet wie das Atmen. Der Corona-Virus befällt die Lungen zuweilen so schwer, dass für schwerkranke Patienten nur ein Beatmungsgerät das Überleben sichern kann. In vielen Teilen der Welt wird es voraussichtlich nicht genügend Beatmungsgeräte geben – Italien ist ein Beispiel –, sodass Tausende von Menschen an Atemnot und am Mangel von Versorgungsgeräten sterben werden. Wie viele Menschen sterben werden, ist von Land zu Land verschieden. Aber ich befürchte, dass die globalen Todeszahlen in die Hundertausende, wenn nicht in die Millionen gehen werden.

 

Angesichts solcher Bedrohungen ist es in der Tat gut, sich auf Wesentliches zu besinnen. Das fängt damit an, dass wir – wie das in östlichen Meditationen gerne geübt wird – bewusst atmen. Das Luftholen ist einige von wenigen Tätigkeiten, vielleicht die einzige Aktivität, die wir sowohl völlig unbewusst als auch sehr bewusst durchführen können. Wir atmen unaufhörlich, meist ohne ihm unsere Aufmerksamkeit zu widmen. Umso wohler fühlt es sich an, wenn wir an der frischen Frühlingsluft ganz bewusst, vorsätzlich und gezielt gesteuert atmen: durch die Nase einatmen, Luft anhalten, durch den Mund wieder ausatmen, die Luft riechen, den Luftstrom spüren, die Atemwege mit Sauerstoff versorgen, sich seines Luftholens ganz bewusst werdend und dankbar dafür sein, dass uns dieses Atmen noch vergönnt ist. Dass uns das Leben noch vergönnt ist. Was uns oft so selbstverständlich erscheint, ist doch alles andere als selbstverständlich. Das Leben.

 

Das Leben. Was heißt Leben? Was bedeutet es, zu leben? In Zeiten wie diesen kommt Angst auf. Angst vor dem Ungewissen, Angst vor Krankheit, Angst vor dem Tod. Wer sich mit dem Tod intensiv auseinandergesetzt hat, muss eigentlich keine Angst vor ihm haben. Vielmehr steckt hinter der vermeintlichen „Todesangst“ doch eher die Angst, noch nicht zum rechten Leben vorgedrungen zu sein. Haben wir gelebt? Doch was ist das rechte Leben? Der amerikanische Präsident Trump, vor wenigen Tagen nach den wirtschaftlichen Folgen des Corona-Virus befragt, hielt es für nötig, die ökonomischen Verhältnisse möglichst zeitnah wiederherzustellen, damit nicht am Ende tausende von Menschen aus wirtschaftlicher Not heraus Selbstmord begehen. Er verband das rechte Leben vor allem mit wirtschaftlichem Erfolg und Wohlstand. Ein anderes lebenswertes Leben konnte er sich wohl kaum vorstellen. Dass man auch mit wenig auskommen und damit sogar glücklich sein kann, solange man die wesentlichen Dinge des Lebens wertschätzt, das schien ihm völlig fremd zu sein. Doch was sind die wesentlichen Dinge?

 

Natürlich gehört die Gesundheit dazu. Auch Bewegungsfreiheit, die z.Zt. ebenfalls bedroht ist. Vor allem aber sind Freundschaften, Beziehungen, persönliche Verhältnisse dazuzurechnen. Auch diese müssen derzeit stark eingeschränkt, aber deswegen umso mehr per Email, Telefon oder Skype gepflegt werden. „Soziale Distanzierung“ lautet das Stichwort. Eigentlich ein soziologischer Begriff, der die oft große Distanz zwischen den Klassen der Gesellschaft beschreibt, etwa wenn die Reichen aufgrund ihres Reichtums nur in reichen Kreisen verkehren, während die Arbeiter sich nur innerhalb ihrer Arbeiterklasse bewegen. Worum es derzeit geht, ist keine soziale Distanzierung, sondern nur das vorübergehende Abstandhalten in Zeiten höchster Übertragungsgefahr, bei gleichzeitiger Notwendigkeit, zu Freunden, Verwandten und anderen uns wichtigen Personen intensiven Kontakt zu halten. Wenn wir uns gerade angesichts der weitgehenden Isolierung unserer eigenen Bedürftigkeit bewusst werden, können wir auch die grundsätzliche Bedürftigkeit und schlechthinnige Abhängigkeit anderer besser wahrnehmen und berücksichtigen. Um es mit dem Philosophen Wilhelm Kamlah zu sagen: „Beachte, dass die Anderen bedürftige Menschen sind wie du selbst, und handle demgemäß.“[1]

 

In diesen Zeiten des Corona-Virus ist es gut, zwischen den Lebensumständen und den Lebenseinstellungen zu unterscheiden. Wir neigen oft dazu, unser mangelndes Glück und unsere Unzufriedenheit auf die Lebensumstände zu schieben, die ja maßgeblich von der Umwelt und von anderen Menschen geprägt werden. Doch die eigentliche Ursache für unser (Un)Glück und unsere (Un)Zufriedenheit sind weniger die Lebensumstände als unsere Lebenseinstellungen. Das Glück ist nicht außen, sondern innen zu suchen.

 

Es gibt im Wesentlichen zwei extreme Einstellungen bzw. Haltungen, mit denen wir das Leben betrachten können: eine Haltung ist die Selbstsicherheit (oder auch Selbstwirksamkeit), die uns suggeriert, dass wir die Umwelt nach unserem Belieben verändern können, um unseren Erfolg und unsere Anerkennung zu sichern. Das kann so weit gehen, dass wir darüber jegliche Empathie für andere verlieren, die dann nur noch als Instrumente für unsere Zwecke verwendet werden. Die andere Haltung ist die des Süchtigen, der sich ebenso nach Glück und Zufriedenheit sehnt, sich aber meist als Opfer der Umstände versteht, gegen die er selbst – aus vermeintlicher Unfähigkeit und Ohnmacht – nicht ankommt. Also kompensiert er sein Unglück mit Ersatzmitteln wie Alkohol, Drogen, Medikamente, Zigaretten. Doch wirkliche Befriedigung findet auch dieser Mensch nicht.

 

Eine gute Haltung wäre indes jene, die in dem berühmten Gelassenheitsgebet zum Ausdruck kommt, das oft dem deutsch-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr zugeschrieben wird:

 

Gott gebe mir die Gelassenheit,

Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,

den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,

und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

 

Wilhelm Kamlah nennt diese Einstellung „gelöste Selbstständigkeit“. Er beruft sich dabei u.a. auf Rainer-Maria Rilkes Gedicht „Wenn etwas mir vom Himmel fällt“, in dem Rilke dem hoffärtigen Streben des Menschen nach wilder Freiheit und Schwerelosigkeit das Gesetz der Schwere, also der Gravitation, entgegenstellt. Am Ende des Gedichtes heißt es:

 

„Eins muss er wieder können: fallen,

geduldig in der Schwere ruhn,

der sich vermaß, den Vögeln allen

im Fliegen es zuvorzutun.“

 

Was uns laut Rilke und Kamlah not tut, das ist das „Fallen-Können“, das Loslassen, das Ruhen-Können. Wer sich fallen lässt, der fällt nun eben nicht ins Leere, sondern ruht auf festem Boden, ruht in sich, der gewinnt das Leben neu für sich. Kamlah bezeichnet diese Erfahrung des sich Fallenlassens, des Loslassens, des Ruhen-Könnens als eine „Grunderfahrung“. Es ist die Erfahrung, dass man sich nicht mehr so leicht aus der Ruhe bringen lässt; die Erfahrung des Lassen-Könnens, des Gelassenseins, der Gelöstheit.

 

Gerade angesichts widriger Lebensumstände, die ich nicht zu ändern vermag, ist es gut, dieses Prinzip der Gelöstheit, des Gelassenseins, des Loslassens zu beherzigen. Es bedeutet, dass ich gelassen das hinnehme, was nicht geändert werden kann. Es bedeutet auch, dankbar für das Leben zu sein, wie es mir zugeteilt wird. Die grundsätzliche Dankbarkeit für die mir zuteil gewordenen Güter des Lebens bewahrt mich davor aufzubegehren, wenn mir ein Mangel bewusst wird oder mir bestimmte Güter genommen oder vorenthalten werden – etwa die Gesundheit, die wir zunehmend entbehren, wenn wir alt werden. Diese Einstellung führt auch dazu, dass die Güter, die mir zunehmend wichtig sind, eher geistiger als materieller Natur sind, die einen spirituellen Wert darstellen und vielleicht gar nichts kosten außer Einsicht, Weisheit und Dankbarkeit. Die Güter, die mir wichtig sind und für die ich dankbar sein kann, sind umso wertvoller, je weniger selbstverständlich sie mir erscheinen. Darum gilt es, diese Güter nur lose in der Hand zu halten, damit ich sie, wenn nötig, auch ganz loslassen und aus der Hand legen kann, wenn die Zeit dafür gekommen ist.

 

[1] Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, B.I. Wissenschaftsverlag: Mannheim/Wien/Zürich 1973, S. 95.

 

https://www.bund-freies-christentum.de/Aktuelles/

 



 

 Eine gemeinsame Erklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen und der regionalen ökumenischen Organisationen bekräftigt den Zusammenhalt zum Schutz des Lebens

 

Zeit für ein seelsorgerisches, vorausschauendes und praktisches Christentum

 

 

Gelobet sei Gott und der Vater unsers HERRN Jesu Christi, der Vater der Barmherzigkeit und Gott alles Trostes, der uns tröstet in aller unsrer Trübsal, daß auch wir trösten können, die da sind in allerlei Trübsal, mit dem Trost, damit wir getröstet werden von Gott. (2 Kor. 1: 3-4)

 

Als Vertreter regionaler ökumenischer Organisationen und des Ökumenischen Rats der Kirchen haben wir teil an den Herausforderungen, denen sich unsere Gemeinden rund um die Welt wegen des Coronavirus COVID-19 stellen müssen.

 

Wir fordern die Menschen überall auf, die Auseinandersetzung mit dieser Situation an oberste Stelle zu setzen und auf jede nur erdenkliche Weise zu unseren gemeinsamen Bemühungen zum Schutz von Leben beizutragen. Jetzt ist es an der Zeit, die Herzen zu berühren, durch das, was wir sagen, weitergeben und tun - und durch das, was wir nicht tun können - um das Leben zu schützen, das Gott aus Liebe erschuf.

 

Um dieser Liebe willen ist es wichtig und dringend erforderlich, dass wir die Formen unserer Gottesdienste und die Art unserer Gemeinschaftlichkeit an die Bedürfnisse in dieser Zeit der pandemischen Ansteckung anpassen, um jedes Risiko zu vermeiden, dass wir zum Ausgangspunkt der Virus-Übertragung werden anstatt zu einem Werkzeug der Gnade.

 

Unser Glaube an den Gott des Lebens verpflichtet uns, Leben zu schützen, indem wir alles tun, was wir können, um eine Übertragung des Virus zu verhindern. Lasst uns Gottes bedingungslose Liebe auf sichere, praktikable Weise verwirk-lichen, bei der Leben geschützt, Leiden gelindert und sichergestellt wird, dass die Kirchen und öffentlichen Dienste nicht zu Ausgangspunkten der Virenübertragung werden.

 

Körperliche Distanz bedeutet nicht geistliche Isolation. Die Kirchen auf der ganzen Welt haben jetzt Gelegenheit, ihre Rolle in der Gesellschaft neu zu gestalten, indem sie sich auf sichere Weise um die Armen, die Kranken, die Ausge-stoßenen und die Betagten - also all jene, die durch COVID-19 am stärksten gefährdet sind - kümmern, für sie sorgen und sie behüten.

 

Wir können zuhause beten. Wir können Gott Dank sagen und um Kraft, Heilung und Mut beten. Wir können unsere Liebe zu Gott und für unsere Nächsten zeigen, indem wir nicht in Persona zu öffentlichen Gottesdiensten zusammen-kommen. Viele Kirchengemeinden können ihre Gottesdienstversammlungen online oder digital verbreiten. Mitglieder und Pastoren können auch per Telefon miteinander in Kontakt bleiben und seelsorgerisch tätig werden.

 

Die neuartige Coronavirus-Pandemie hat alle Regionen unseres Planeten erreicht. Es herrschen Angst und Panik, Schmerz und Leid, es gibt Zweifel und Fehlinformationen sowohl über den Virus als auch über unsere Reaktion als Christinnen und Christen. Doch als weltweite Glaubensgemeinschaft bekräftigen wir, dass wir selbst inmitten all unserer Verletzlichkeit auf Gott vertrauen, denn Gott ist unsere Hoffnung.

 

Bei all den Geschichten über das Leiden und die Tragödien gibt es auch Geschichten über einfache Güte und über-schwängliche Liebe, über Solidarität und darüber wie auf innovative und überraschende Weise Hoffnung und Frieden verbreitet werden.

 

Während dieser Fastenzeit führt uns unser Pilgerweg durch die Einöde der Strapazen, Schwierigkeiten und Versu-chungen vom Tod zur Auferstehung in ein neues Leben mit Gott.

 

Diese Einöde wird durch COVID-19 noch feindseliger und beängstigender, aber wir sind aufgerufen, unsere Herzen in Solidarität miteinander zu vereinen, mit den Trauernden zu trauern, den Furchtsamen Frieden zu bringen und die Hoffnung durch Solidarität im Glauben wieder herzustellen.

 

Wenn wir in Panik sind und uns auf Hamsterkäufe und das Anlegen von Vorräten konzentrieren, wird diese menschliche Solidarität zersetzt und die Furcht verstärkt. Dabei misslingt es uns in dieser Fastenzeit Instrumente von Gottes Gnade zu sein.

 

Wir erkennen das Bedürfnis nach verantwortungsbewusster Führung durch den Staat, die Gemeinden und die Ober-häupter der Glaubensgemeinschaften gleichermaßen. Die Regierungen müssen auf allen Ebenen den Zugang zu korrekten und zeitnahen Informationen sicherstellen, und die durch den Verlust von Existenzgrundlage und Beschäf-tigung verursachten Situationen angehen, vor allem aber für Zugang zu sauberem Wasser und Desinfektionsmitteln und Seife sorgen und den am meisten gefährdeten Personen teilnahmsvolle Fürsorge angedeihen lassen, und sich dabei stets bewusst sein, dass einiges davon in vielen Teilen der Welt noch immer Herausforderungen darstellen wird. Es ist auch an der Zeit für tiefgreifende Überlegungen über das gemeinsame Wohl, eine kompetente Führung und die in unseren Traditionen verwurzelten ethischen Werte.

 

Inmitten dieser gravierenden Krise erheben wir unsere Stimmen im Gebete für all jene, die für Führung sorgen und für die Regierungen in aller Welt und ermahnen sie, dass ihre dringlichste Sorge jenen gelten muss, die in Armut und an den Rändern leben, sowie den Flüchtlingen in unserer Mitte.

 

Als Religionsoberhäupter erheben wir unsere gemeinsamen Stimmen, um die Notwendigkeit nach mehr Aufmerksam-keit für die Bedürfnisse der Obdachlosen, der Inhaftierten, der älteren Menschen und derjenigen, die bereits unter sozialer Isolation leiden, hervorzuheben. Wir erinnern auch an jene Menschen, vor allem Frauen und Kinder, die Missbrauch und Gewalt ausgesetzt sind, die zuhause nicht sicher sind und die, wenn die Belastung zunimmt, noch mehr Missbrauch und Gewalt erfahren.

 

Lasst uns schließlich auch für alle jene beten, die mit COVID-19 infiziert sind, für ihre Familien und für das medizinische Personal und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen, die ihre Leben riskieren, um für deren Be-handlung und eine Prävention für uns alle zu sorgen. Und lasst uns auch für die Funktionäre im öffentlichen Gesund-heitssektor beten, die, wie wir hoffen, in der Lage sein werden, mit Gottes Hilfe und unserer Kooperation, die Ausbrei-tung des Virus einzudämmen und schwerwiegende soziale, wirtschaftliche und ökologische Folgen abzuwenden.

 

Gottes Liebe is allumfassend und der Gott des Lebens ist mit jedem und jeder von uns, selbst in unserem Leiden.

 

26. März 2020

 

  • Pastor Dr. Olav Fykse Tveit, Generalsekretär, Ökumenischer Rat der Kirchen
  • Dr. Souraya Bechealany, Generalsekretärin, Kirchenrat des Nahen Ostens
  • Pfarrer James Bhagwan, Generalsekretär, Pazifische Kirchenkonferenz
  • Dr. Mathews George Chunakara, Generalsekretär, Christliche Konferenz von Asien
  • Gerard Granado - Generalsekretär, Karibische Kirchenkonferenz
  • Pfarrer Dr. Fidon Mwombeki, Generalsekretär, Allafrikanischer Kirchenrat
  • Pastor Peter Noteboom, Generalsekretär, Kanadischer Kirchenrat
  • Dr. Jørgen Skov Sørensen, Generalsekretär, Konferenz Europäischer Kirchen
  • Jim Winkler, Generalsekretär, Nationaler Kirchenrat der Kirchen in Christus in den USA

 

https://www.oikoumene.org/de

 

https://www.ekd.de/gemeinsame-erklaerung-oerk-und-anderen-organisationen-54492.htm