Emil Brunner (1889-1966)


 

 

Emil Brunner: Denker fürs 21. Jahrhundert

 

Von Peter Schmid, 09/17/2016

 

Wie das Feuer nur im Brennen Feuer ist, ist die Kirche nur durch Mission Kirche. Eine Tagung zum 50. Todestag des grossen, weithin vergessenen Theologen Emil Brunner liess ahnen, was von ihm für heute gelernt werden kann: für die differenzierte Bewertung kultureller Trends, für den Umgang mit Natur und Naturwissenschaften, für die Apologetik.

 

 

In der Kirche, die als Institution funktioniert, muss herzliche und verbindliche Gemeinschaft der Christus-Gläubigen gelebt und gepflegt werden – so bleibt sie ihrer Bestimmung auf der Spur. Emil Brunners scharfe Entgegensetzung von Institution und Ekklesia zeigt im Zeitalter des Spardrucks und des strukturellen Umbaus, worauf dieser hinzielen muss. Wie der Professor in einer Fraumünsterpredigt sagte, geht es darum, «in den institutionellen Rahmen der Kirche so viel Christus-Gemeinschaft wie möglich hineinzubauen».

 

Der weltweit bekannteste Zürcher Theologe des 20. Jahrhunderts (1889-1966) hat für aktuelle kirchliche und theologische Debatten viel Anregendes zu bieten – wenn man sich mit ihm beschäftigen will. Dies machte die gut besuchte Tagung am 12. September 2016 im Kirchgemeindehaus Zürich-Neumünster «Emil Brunner – ein missverstandener Pionier» deutlich.

 

Religiöser Sozialismus und dialektische Theologie

 

Nach Grussworten vergegenwärtigte Frank Jehle, der eine grosse Biografie (Ein Leben zwischen den Zeiten) verfasst hat, den Gelehrten mit Bildern und pointierten Bemerkungen zu Wegstationen, Gefährten und Werken. Emil Brunner, Sohn eines Primarlehrers und einer Pfarrerstochter, wurde als strebsamer junger Pfarrer von Hermann Kutter und Leonhard Ragaz geprägt. Nach der Katastrophe des 1. Weltkriegs suchte er zuerst mit anderen dialektischen Theologen, dann eigenständiger den christlichen Glauben gesellschaftsbezogen zu reflektieren und eingängig zu vermitteln.

 

Weiter Horizont

 

Im Horizont von Philosophie und Naturwissenschaften trieb Brunner Theologie im Blick auf seine reformierte Kirche und predigte häufig. Er hatte viele Studenten, Freunde und Verehrer. Durch seine Bücher, vielfach übersetzt, und Reisen wurde der Zürcher weit über Europa hinaus wahrgenommen. Er pflegte Kontakte in der angelsächsischen Welt und Asien und engagierte sich in Bewegungen (Oxford-Gruppenbewegung, ökumenische Bewegung Life & Work, CVJM).

 

Um das Gespräch in der Kirche, zwischen Pfarrschaft und Mitgliedern, zu fördern, half er 1948 Boldern gründen. Wichtig bleiben laut Jehle die Betonung des Personalen («Wahrheit als Begegnung») und die Mahnung: «Eine Kirche, die nicht missioniert, hat demissioniert.»

 

Idee für die Tagung aus Oxford

 

Wie Ralph Kunz in der Begrüssung mitteilte, kam die Tagung 50 Jahre nach dem Tode Brunners durch eine Anregung von Alister McGrath zustande. Der Professor für Wissenschaft und Religion in Oxford gab die Idee dazu, als Schweizer Kirchenleiter ihn im Januar dieses Jahres besuchten. McGrath, als Autor weltweit gelesen, reiste für den Vortrag nach Zürich.

 

Im Dialog mit der Zeit: A. McGrath über Emil Brunner

 

Brunner sei nicht widerlegt, bloss vernachlässigt worden, setzte er ein. Auch wenn er es sich mit biblischen Aussagen, theologischen Denkern und der Mystik zu einfach gemacht habe, verdiene er, neu gelesen und diskutiert und in Teilen rehabilitiert zu werden. 

 

Der Referent, der 2014 eine gewichtige Studie über den Zürcher Theologen veröffentlicht hat, führte dies gleich aus. Er nannte sechs Aspekte, mit denen Emil Brunner für theologisches Denken anregend und wegweisend bleibe.

 

1. Umgang mit der reformierten Tradition

 

Emil Brunner sorgte sich um die Kirche und wollte ihr mit Theologie dienen. An ihm sei die Vielstimmigkeit reformierten Denkens abzulesen, sagte der Anglikaner und verwies auf den «Reichtum an pastoraler Erfahrung», der in der reformierten Tradition aufgehoben sei. Nicht von Barth oder einer Schule allein dürfe sie bestimmt sein; auch von anderen Denkern gebe es Inspiration. Mit Barth und Brunner hätten die Schweizer Reformierten Schätze, welche sie ins globale Gespräch einbringen könnten.

 

2. Theologischer Zugang zur Natur

 

Emil Brunner befasste sich mit der Schöpfung und war im Dialog mit Naturwissenschaftlern. Er biete einen «theologischen Zugang zur Natur», sagte McGrath. Dies sei wichtig für das Darlegen und Verteidigen des christlichen Glaubens angesichts des neuen Atheismus, für den kritischen Dialog mit Naturwissenschaften und für den Diskurs über «natural law» namentlich bei den US-Reformierten, grundlegend für christliche Ethik in einer säkularen Gesellschaft.

 

3. Differenzierter Umgang mit Kultur

 

«Brunner gibt ein theologisches Mandat für kulturelles Engagement.» Laut Alister McGrath leistete Brunner Hervorragendes, das heute noch zu einem «nicht opportunistischen“ Eingehen auf gesellschaftliche Entwicklungen beitragen kann. Apologetik habe für ihn zweierlei bedeutet: «das In-Frage-Stellen, die Kritik vorherrschender kultureller Annahmen und das Bestimmen und Entwickeln von Wegen, auf denen die christliche Verkündigung zu aktuellen kulturellen Belangen in Bezug gesetzt werden kann».

 

Brunner habe dies als Auftrag verstanden und eine theologische Plattform geschaffen, Kriterien bereitgestellt, auf die sich die Kirchen Europas heute beziehen könnten, um zwischen dem simplen Belobigen und der Ablehnung kultureller Trends eine Mitte zu finden.

 

4. Kirche als Gemeinschaft

 

Die alten Kirchen des Westens werden als Institutionen gesehen und verstehen sich, funktionieren auch so. Emil Brunner hat betont, dass dies Ergebnis der Geschichte, nicht geistlich geboten ist («historical contingency, not spiritual necessity»). Starke Anregungen empfing er von Erneuerungsbewegungen, der Studentenbewegung von John Mott und der Oxford-Bewegung. Von ihm könne auch für ein zeitgemässes Verständnis der Mission gelernt werden.

 

McGrath zitierte, was Brunner in einem Vortrag in London 1931 sagte: «The church exists by mission – just as a fire exists by burning.» Als Institutionen allein können Kirchen nicht bestehen – als Träger des Evangeliums haben sie zu agieren. Brunner, so der Brite, habe einen theologischen Rahmen fürs Wachsen und Festigen von Gemeinde erarbeitet.

 

5. Wahrheit als Begegnung

 

«Indem wir in Beziehung zu Gott treten, entdecken wir, wer wir sind und warum wir Bedeutung haben.» Emil Brunner kam von der Lehre Gottes und der Christologie, auf welche die dialektische Theologie fokussierte, zur Anthropologie. Der Systematiker verstand Identität relational: aus der Beziehung mit Gott. Dabei habe er Gedanken von Martin Buber und anderen eigenständig weiterentwickelt, sagte McGrath. Dies bestimmte auch sein Verständnis von Wahrheit: Sie ist «nicht ein objektives Statement, sondern etwas, das mich verwandelt und mich gefangen nimmt».

 

Der Gast aus Oxford würdigte die «theologisch informierte Vision der menschlichen Natur», die es Brunner erlaubte, den totalitären Bewegungen der 1930er Jahre entgegenzutreten: Gott sichert den einzigartigen Wert jedes Menschen. Dies ist von grösster Bedeutung angesichts der Wissenschaftsgläubigkeit des neuen Atheismus, der im Menschen nur Atome und soziale Kräfte am Werk sieht.

 

6. Zurückhaltender Umgang mit der Trinität

 

Gemäss McGrath bietet Emil Brunner eine «alternative, nicht spekulative Lesart der theologischen Funktionen der Trinität» an. Das trägt zu theologischer Bescheidenheit bei in einer Zeit, da soziale Modelle von «Trinität» ins Gottesverständnis eingetragen werden. Brunner habe richtig die Trinität als theologische Schutzlehre gesehen, die – nach langem Nachdenken und Streiten in der Alten Kirche festgehalten – nicht zu dem gehört, was die Kirche zu verkündigen hat. Doch hilft sie ihr, den Glauben zu bedenken, darzulegen und zu verteidigen. Inkarnation und Sühnetod von Jesus, Kern der Botschaft des Neuen Testaments, führen zur Trinität hin.

 

Den Reichtum von Bibel und Tradition aufnehmen

 

Insgesamt, so Alister McGrath, ist bei Emil Brunner exemplarisch zu sehen, wie der Reichtum der Bibel und der Tradition für heute aufgenommen werden kann. «Er widerstand der Versteinerung des Glaubens.» Auf aktuelle Fragen dürfen nicht Antworten des 16. und 17. Jahrhunderts gegeben werden. Die Theologen hätten zwar den Auftrag von ihren Vorfahren geerbt – aber nicht die Antworten. Namentlich die Lehre von der Kirche sei ständig neu zu formulieren.

 

Im Clinch mit liberalen Alttestamentlern

 

Auf den Gast aus Oxford folgte der Zürcher Alttestamentler Konrad Schmid. Er schilderte den hürdenreichen Weg Brunners auf den Zürcher Lehrstuhl (Antritt 1924) und die folgende heftige Erbsünde-Kontroverse mit liberalen Alttestamentlern. Der junge Professor kritisierte, dass diese die Bibel wie ein profanes Buch behandelten, und forderte eine alttestamentliche Wissenschaft, «die statt des religiösen Humanismus den christlichen Glauben zur Voraussetzung hat». Laut Schmid traten im Schlagabtausch «zwei Weisen des Umgangs mit der Aufklärung» zu Tage.

 

Impulse für heute

 

Nach der Mittagspause ermöglichten sieben Workshops die Diskussion von Texten Brunners, die auf aktuelle Fragestellungen bezogen werden können (Themen und Texte). Ralph Kunz und Walter Dürr kommentierten die zu Papier gebrachten Gesprächsergebnisse. Sie legten nahe, dass der Zürcher Theologe vielfach in laufende Debatten einbezogen werden kann – wenn man nur will.

 

https://www.landeskirchenforum.ch/berichte/emil-brunner-tagung